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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 37.18, gleichlautend: 1 C 31.18 - asyl.net: M27583
https://www.asyl.net/rsdb/m27583
Leitsatz:

Beweislast und richterliche Überzeugungsbildung im Asylverfahren:

"1. Für eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bedarf es einer Gefahrenprognose anhand des Maßstabs der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit; hierbei müssen sich die Tatsachengerichte auch bei unklarer Erkenntnislage die nach § 108 Abs. 1 VwGO erforderliche Überzeugungsgewissheit verschaffen.

2. Ein nicht vorverfolgt ausgereister Schutzsuchender trägt die (materielle) Beweislast für eine ihm bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung."

(Amtliche Leitsätze; gleichlautend: Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 31.18)

Schlagwörter: Syrien, Aufstockungsklage, Upgrade-Klage, Verfolgung, Gefahrenprognose, beachtliche Wahrscheinlichkeit, Überzeugungsgewissheit, unklare Erkenntnislage, Nichterweislichkeit, Beweislast; Beweiserleichterung,
Normen: AsylG § 3, VwGO § 108 Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 4, RL 2011/95/EU Art. 9,
Auszüge:

[...]

d) Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ("real risk") abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22 m.w.N. und vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32; Beschluss vom 15. August 2017 - 1 B 120.17 - juris Rn. 8). [...]

Dieser im Tatbestandsmerkmal "aus begründeter Furcht vor Verfolgung" enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte - zu denen der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht gehört - werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. [...]

3. Hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der begründeten Furcht vor Verfolgung folgt das Berufungsgericht zwar im Ansatz der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Es erkennt insbesondere, dass für die gebotene Verfolgungsprognose auf den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit abzustellen ist, es sich hierbei nicht um einen mit der Genauigkeit naturwissenschaftlicher Methoden bestimmbaren Grad an Wahrscheinlichkeit, sondern um einen Akt wertender Erkenntnis handelt, es für die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit aufgrund einer zugeschriebenen politischen Überzeugung einer qualifizierenden Gesamtbetrachtung und Würdigung der Erkenntnisse bedarf und hierbei der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit einer Rückkehr als vorrangiges qualitatives Kriterium heranzuziehen ist. Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung, dass die Auswertung der zur Verfügung stehenden und auf die aktuelle Situation in Syrien bezogene Faktenlage keine eindeutige Prognose zulässt. Gegen Bundesrecht verstoßen indes die Überlegungen, welche rechtlichen Schlussfolgerungen aus einer nicht eindeutig zu ermittelnden Faktenlage zu ziehen sind. Nach Auffassung des Berufungsgerichts soll in diesem Fall für die richterliche Überzeugung einer bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung genügen, wenn in der Gesamtschau der Erkenntnisse ausreichende Anhaltspunkte für eine Prognose sowohl in die eine wie in die andere Richtung vorliegen, also eine Situation vorliegt, die einem non liquet vergleichbar ist.

a) Damit geht das Berufungsgericht offenbar davon aus, dass sich eine unklare Faktenlage bei der Überzeugungsbildung im Zweifel zu Gunsten des Schutzsuchenden auswirkt ("benefit of doubt"). Mit diesem Rechtssatz verfehlt es nicht nur das durch § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgegebene Maß an Überzeugungsgewissheit. Eine hierauf gestützte Verfolgungsprognose begründet zugleich einen materiellen Rechtsverstoß. Denn die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt tatbestandlich eine begründete Furcht vor Verfolgung voraus. Hierfür bedarf es einer Gefahrenprognose anhand des Maßstabs der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit und muss sich das Tatsachengericht - auch in Ansehung der "asyltypischen" Tatsachenermittlungs- und -bewertungsprobleme - die nach § 108 Abs. 1 VwGO erforderliche Überzeugungsgewissheit verschaffen. Verfehlt es bei der Verfolgungsprognose das gebotene Maß an Überzeugung, steht seine Entscheidung nicht im Einklang mit der Zielsetzung des Flüchtlingsrechts (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. November 1977 - 1 C 33.71 - BVerwGE 55, 82 <83> und vom 11. November 1986 - 9 C 316.85 - juris Rn. 11 zu den  Anforderungen an den Nachweis asylbegründender Tatsachen).

aa) In dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess ist es Aufgabe des Tatsachengerichts, den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln, dazu von Amts wegen die erforderliche Sachverhaltsaufklärung zu betreiben und sich eine eigene Überzeugung zu bilden (§ 86 Abs. 1 Satz 1, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auch die in Asylverfahren gesteigerten Mitwirkungspflichten (§§ 15 und 25 AsylG) entbinden das Gericht nicht von seiner Aufklärungspflicht, um sich so die für seine Entscheidung gebotene Überzeugungsgewissheit zu verschaffen. Hierzu muss es die Prognosetatsachen ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau bewerten und sich auf dieser Grundlage eine Überzeugung bilden. [...]

(3) Kann das Gericht auf der Grundlage der zu seiner Überzeugung feststehenden Prognosebasis hinsichtlich der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer dem Kläger individuell drohenden Verfolgung weder in die eine noch in die andere Richtung eine Überzeugung gewinnen und sieht es keine Anhaltspunkte für eine weitere Sachverhaltsaufklärung, hat es die Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals festzustellen und eine Beweislastentscheidung zu treffen. Zuvor bedarf es aber stets einer eingehenden Analyse der Erkenntnisquellen und der sich hieraus ergebenden Erkenntnisse. Dabei hat das Gericht aufgrund des wertenden Charakters des Prognosemaßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch zu berücksichtigen, worauf etwaige Ungewissheiten und Unklarheiten zurückzuführen sind und ob sich nicht zumindest in der Gesamtschau der ihm vorliegenden Einzelinformationen hinreichende Indizien ergeben, die bei zusammenfassender Bewertung eine eigene Prognoseentscheidung zur Rückkehrgefährdung ermöglichen. Nur wenn dem Tatsachengericht auf der Grundlage der zu seiner Überzeugung feststehenden Prognosebasis eine eigene Prognoseentscheidung nicht möglich ist, darf es eine an der materiellen Beweislast auszurichtende Nichterweislichkeitsentscheidung treffen. [...]

bb) In Anwendung dieser Grundsätze trägt grundsätzlich der Schutzsuchende die (materielle) Beweislast für das Vorliegen der (positiven) Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und geht insoweit ein non liquet zu seinen Lasten. Dies gilt jedenfalls bei einem - wie hier - nicht vorverfolgt ausgereisten Antragsteller hinsichtlich der Frage, ob ihm bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht (BVerwG, Urteil vom 21. November 1989 - 9 C 44.89 - Buchholz 402.25 § 2 AsylVfG Nr. 14 S. 41; Beschluss vom 15. August 2017 - 1 B 120.17 - juris Rn. 8).

Das materielle Recht enthält nur für besondere Situationen - etwa bei Vorverfolgten (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU; vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 u.a. [ECLI:EU:C:2010:105], Abdullah u.a. - Rn. 94; BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 Rn. 15) und in Widerrufsfällen (Art. 14 Abs. 2 Richtlinie 2011/95/EU) - hinsichtlich der Rückkehrprognose einen vom Günstigkeitsprinzip abweichenden beweisrechtlichen Ansatz. Dem ist im Umkehrschluss zu entnehmen, dass es ansonsten - soweit sich nicht aus der Natur der Sache etwas anderes ergibt - dabei verbleibt, dass die Nichterweislichkeit zu Lasten des Schutzsuchenden geht. Dies gilt nicht nur für in die Sphäre des Klägers fallende Tatsachen, sondern grundsätzlich für alle bei der  Gefahrenprognose erheblichen Umstände. Damit gehen auch Ungewissheiten und Unklarheiten, die sich aus den Erkenntnisquellen hinsichtlich der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland ergeben, im Zweifel zu Lasten des Schutzsuchenden. Gleiches gilt für das Anknüpfen bei Rückkehr drohender Maßnahmen an einen Verfolgungsgrund. [...]