EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Beschluss vom 05.07.2018 - C-269/18 Niederlande gg. C, J, S - asyl.net: M27604
https://www.asyl.net/rsdb/m27604
Leitsatz:

Keine Abschiebehaft während eines laufendem Eilrechtsschutzverfahrens

1. Drittstaatsangehörige, deren Antrag auf internationalen Schutz von der zuständigen Verwaltungsbehörde als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dürfen während des laufenden Eilrechtsschutzverfahrens über die Frage, ob sie berechtigt sind, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf in der Hauptsache im Hoheitsgebiet zu bleiben, nicht in Abschiebehaft genommen werden.

2. Da sie ein Recht auf Verbleib bis zur Entscheidung im Eilverfahren haben, ist ihr Aufenthalt bis zu diesem Zeitpunkt nicht illegal.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylverfahren, Rückkehrentscheidung, Abschiebungshaft, vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, offensichtlich unbegründet, illegaler Aufenthalt, vorläufiges Recht zum Verbleib, Rückführungsrichtlinie, Niederlande, C, J, S
Normen: RL 2013/32 Art. 46 Abs. 6, RL 2013/32 Art. 46 Abs. 8, RL 2008/115 Art. 6 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

42 Das vorlegende Gericht wirft, ausgehend von dem Grundsatz, dass nur eine Person, die sich illegal im nationalen Hoheitsgebiet aufhält, in Haft genommen werden kann, die Frage auf, ob die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen, der gegen die Entscheidung, seinen Antrag auf internationalen Schutz als offensichtlich unbegründet abzulehnen, Klage erhoben hat, als rechtmäßig anzusehen ist, da ihm nach Art. 46 Abs. 8 der Richtlinie 2013/32 zu gestatten ist, bis zur Entscheidung in dem Verfahren, in dem darüber befunden wird, ob er bis zur Entscheidung über seine Klage im Hoheitsgebiet verbleiben darf, dort zu bleiben. Bejahendenfalls stünde die Richtlinie 2008/115 nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegen, nach denen der Aufenthalt einer solchen Person als illegal anzusehen ist, so dass sie inhaftiert werden kann.

43 Mit seinen Vorlagefragen möchte dieses Gericht daher wissen, ob die Richtlinien 2008/115 und 2013/32 dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass ein Drittstaatsangehöriger, dessen Antrag auf internationalen Schutz erstinstanzlich von der zuständigen Verwaltungsbehörde als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, zwecks Abschiebung in Haft genommen wird, wenn er gemäß Art. 46 Abs. 6 und 8 der Richtlinie 2013/32 berechtigt ist, im Hoheitsgebiet zu bleiben, bis über seinen das Recht zum Verbleib im Hoheitsgebiet bis zur Entscheidung über die Klage gegen die Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz betreffenden Rechtsbehelf entschieden wurde.

44 Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 findet die Richtlinie 2008/115 Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige. Nach ihrem Art. 6 Abs. 1 erlassen die Mitgliedstaaten grundsätzlich gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C-181/16, EU:C:2018:465, Rn. 37).

45 Aus der Definition des Begriffs "illegaler Aufenthalt" in Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115 geht hervor, dass jeder Drittstaatsangehörige, der sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, in dessen Hoheitsgebiet befindet, schon allein deswegen dort illegal aufhältig ist (Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C-181/16, EU:C:2018:465, Rn. 39).

46 Es trifft zu, dass der Gerichtshof in den Rn. 47 und 49 des Urteils vom 30. Mai 2013, Arslan (C-534/11, EU:C:2013:343), entschieden hat, dass eine zur wirksamen Ausübung eines Rechtsbehelfs gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz erteilte Berechtigung zum Verbleib im Hoheitsgebiet verhindert, dass auf den Drittstaatsangehörigen, der den Antrag gestellt hat, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen seine Ablehnung die Richtlinie 2008/115 Anwendung findet (Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C-181/16, EU:C:2018:465' Rn. 43).

47 Aus diesem Urteil lässt sich jedoch nicht ableiten, dass eine solche Bleibeberechtigung die Annahme ausschlösse, dass ab der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz und vorbehaltlich des Vorliegens einer Aufenthaltsberechtigung oder eines Aufenthaltstitels der Aufenthalt des Betroffenen illegal im Sinne der Richtlinie 2008/115 wird. Vielmehr ist ein Drittstaatsangehöriger – es sei denn, ihm wurde eine Aufenthaltsberechtigung oder ein Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 erteilt – ab der erstinstanzlichen Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde illegal aufhältig im Sinne dieser Richtlinie, unabhängig vom Vorliegen einer Bleibeberechtigung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung (Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C-181/16, EU:C:2018:465' Rn. 44 und 59).

48 Somit kann gegen den Betroffenen grundsätzlich ab der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung eine Rückkehrentscheidung erlassen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C-181/16, EU:C:2018:465' Rn. 59).

49 Gleichwohl ist hervorzuheben, dass die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen haben, dass bei jeder Rückkehrentscheidung die in Kapitel III der Richtlinie 2008/115 genannten Verfahrensgarantien und die übrigen einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des einzelstaatlichen Rechts beachtet werden. Eine solche Pflicht ist in Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie ausdrücklich für den Fall vorgesehen, dass die Rückkehrentscheidung zusammen mit der erstinstanzlichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde ergeht. Sie muss auch in einer Situation zur Anwendung kommen, in der die Rückkehrentscheidung unmittelbar nach der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz in einer gesonderten behördlichen Entscheidung von einer anderen Behörde getroffen wurde (Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C-181/16, EU:C:2018:465' Rn. 60).

50 In diesem Zusammenhang haben die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz seine volle Wirksamkeit entfaltet, so dass während der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs und, falls er eingelegt wird, bis zur Entscheidung über ihn u. a. alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung auszusetzen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C-181/16, EU:C:2018:465' Rn. 61).

51 Insoweit impliziert das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf, dass alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung ausgesetzt werden, was insbesondere zur Folge hat, dass der Betroffene nicht gemäß Art. 15 der Richtlinie 2008/115 für die Zwecke der Abschiebung inhaftiert werden darf, solange er ein Bleiberecht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C-181/16, EU:C:2018:465' Rn. 62).

52 Das Gleiche gilt für einen Drittstaatsangehörigen, dessen Antrag auf internationalen Schutz im Einklang mit Art. 32 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde.

53 Es trifft zu, dass der Betroffene in diesem Fall nach Art. 46 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2013/32 kein volles Bleiberecht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats bis zur Entscheidung über seinen Rechtsbehelf hat. Im Einklang mit den Anforderungen von Art. 46 Abs. 6 letzter Unterabsatz der Richtlinie muss er jedoch ein Gericht anrufen können, das darüber zu entscheiden hat, ob er in diesem Hoheitsgebiet verbleiben kann, bis in der Sache über seinen Rechtsbehelf entschieden wird. Art. 46 Abs. 8 der Richtlinie sieht vor, dass der betreffende Mitgliedstaat dem Betroffenen bis zur Entscheidung über sein Bleiberecht in diesem Verfahren gestatten muss, in seinem Hoheitsgebiet zu verbleiben.

54 Aus alledem ergibt sich, dass ein Drittstaatsangehöriger, dessen Antrag auf internationalen Schutz als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, während der Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen den ablehnenden Bescheid nicht nach Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in Haft genommen werden darf. Ist ein solcher Rechtsbehelf eingelegt worden, darf der Betroffene nicht mehr auf der Grundlage dieses Artikels in Haft genommen werden, solange er gemäß Art. 46 Abs. 8 der Richtlinie 2013/32 im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verbleiben darf.

55 In Anbetracht all dieser Erwägungen ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass die Richtlinien 2008/115 und 2013/32 dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass ein Drittstaatsangehöriger, dessen Antrag auf internationalen Schutz erstinstanzlich von der zuständigen Verwaltungsbehörde als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, zwecks Abschiebung in Haft genommen wird, wenn er gemäß Art. 46 Abs. 6 und 8 der Richtlinie 2013/32 berechtigt ist, im Hoheitsgebiet zu bleiben, bis über seinen das Recht zum Verbleib im Hoheitsgebiet bis zur Entscheidung über die Klage gegen die Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz betreffenden Rechtsbehelf entschieden wurde. [...]