EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 10.09.2019 - C-94/18 Chenchooliah gg. Irland - asyl.net: M27624
https://www.asyl.net/rsdb/m27624
Leitsatz:

Aufenthaltsbeendigung für drittsaatsangehörige Familienangehörige von Unionsbürger*innen:

Die Regelungen der Freizügigkeitsrichtlinie zur Ausweisung finden auch Anwendung auf  drittstaatsangehörige Familienangehörige von Unionsbürger*innen in Fällen, in denen die Unionsbürger*innen nach Aufenthalt in einem anderen EU-Mitgliedstaat in ihr Herkunftsland zurückgekehrt sind, während die drittstaatsangehörigen Familienangehörigen im Aufnahmestaat verblieben sind.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Freizügigkeitsrecht, Unionsbürger, drittstaatsangehöriger Ehegatte, Aufenthaltsrecht, Ausweisung, EU-Staatsangehörige, Nalini Chenchooliah, Irland
Normen: RL 2004/38 Art. 15, RL 2004/38 Art. 30,
Auszüge:

[...]

50 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen des Kapitels VI der Richtlinie 2004/38, insbesondere deren Art. 27 und 28, sowie die Art. 14 und 15 der Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie auf eine Entscheidung anwendbar ist, mit der in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der ein Drittstaatsangehöriger einen Unionsbürger zu einem Zeitpunkt heiratete, als dieser von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machte, indem er sich in den Aufnahmemitgliedstaat begab und sich dort mit dem Drittstaatsangehörigen aufhielt, anschließend aber in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrte, die Ausweisung des Drittstaatsangehörigen verfügt wird, weil er nicht mehr über ein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie verfügt.

51 Vor der Prüfung dieser Fragen ist zunächst deren Tragweite abzugrenzen.

52 Im vorliegenden Fall beansprucht Frau Chenchooliah, eine Drittstaatsangehörige, kein vom Aufenthaltsrecht ihres Ehegatten, eines Unionsbürgers, abgeleitetes Recht auf Aufenthalt nach der Richtlinie 2004/38. Ihr Antrag auf Zuerkennung eines solchen Rechts nach Art. 7 der Richtlinie wurde nämlich mit einer bestandskräftigen Entscheidung abgelehnt, die von ihr nicht angefochten wird.

53 Sie macht vielmehr geltend, dass ihr nunmehr rechtswidriger Aufenthalt in Irland, dem Aufnahmemitgliedstaat, nicht zum Erlass einer – von Amts wegen mit einem unbefristeten Verbot der Einreise nach Irland einhergehenden – Abschiebungsverfügung nach Section 3 des Einwanderungsgesetzes von 1999 berechtige, sondern nur zu einer Ausweisungsverfügung führen könne, die unter Beachtung des ihr durch die Richtlinie 2004/38 und insbesondere deren Art. 27 und 28 gewährten Schutzes zu erlassen sei.

54 Nach dieser Klarstellung ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nur Unionsbürger, die sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, begeben oder sich dort aufhalten, sowie ihre Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie, die sie begleiten oder ihnen nachziehen, in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen und Berechtigte der durch sie gewährten Rechte sind (Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C-165/16, EU:C:2017:862' Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55 Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Ehegatte von Frau Chenchooliah, ein portugiesischer Staatsangehöriger und damit ein Unionsbürger, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machte, indem er Portugal verließ und sich in einen anderen Mitgliedstaat, und zwar nach Irland, begab und sich dort aufhielt.

56 Unstreitig ist auch, dass sich Frau Chenchooliah aufgrund dessen, dass sie diesen Unionsbürger heiratete, als er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machte, eine Zeit lang kraft des abgeleiteten Aufenthaltsrechts, das den Familienangehörigen eines Unionsbürgers nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 zusteht, mit ihrem Ehemann in Irland aufhielt. [...]

59 Seit der Rückkehr ihres Ehemanns nach Portugal ist Frau Chenchooliah jedoch keine "Berechtigte" im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 mehr.

60 Da Frau Chenchooliah in Irland blieb, wo sie sich nicht mehr mit ihrem portugiesischen Ehegatten aufhält, der zwar in der Vergangenheit von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatte, indem er sich nach Irland begab und dort eine Zeit lang mit ihr aufhielt, erfüllt sie nämlich nicht mehr das in Art. 3 Abs. 1 aufgestellte Erfordernis, dass sie einen Unionsbürger begleitete oder ihm nachzog. [...]

65 Sofern sich der Drittstaatsangehörige, der mit einem von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machenden Unionsbürger verheiratet ist, mit diesem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufhält und daher ein "Berechtigter" im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ist, darf das dem Drittstaatsangehörigen nach der Richtlinie – insbesondere nach ihrem Art. 7 Abs. 2 – zustehende Aufenthaltsrecht somit nur unter Beachtung insbesondere ihrer Art. 27 und 35 beschränkt werden.

66 Eine solche Situation unterscheidet sich jedoch von der des Ausgangsverfahrens, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich die betreffende Drittstaatsangehörige nach der Ausreise ihres Ehegatten, eines Unionsbürgers, nicht mehr mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, und ihr ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 verweigert wurde. Daher steht ihr kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie mehr zu, da ihre Situation auch nicht zu den von den Art. 12 Abs. 2 und 13 Abs. 2 der Richtlinie erfassten Fällen der Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats haben, gehört. [...]

68 Allerdings stellt sich die Frage, ob bei Frau Chenchooliah der Verlust der Eigenschaft als "Berechtigte" im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 bedeutet, dass eine Ausweisungsverfügung, die im Wesentlichen mit der Versagung eines Aufenthaltsrechts nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie begründet wird, nicht unter die Richtlinie fällt, sondern nur unter das außerhalb ihres Geltungsbereichs anwendbare nationale Recht.

69 Dies ist zu verneinen.

70 Insoweit ist festzustellen, dass die Richtlinie 2004/38 nicht nur Vorschriften zur Regelung der Voraussetzungen für die Gewährung einer der verschiedenen von ihr vorgesehenen Arten von Aufenthaltsrechten sowie der Voraussetzungen enthält, die erfüllt sein müssen, um weiterhin in den Genuss der betreffenden Rechte kommen zu können. Die Richtlinie enthält außerdem eine Reihe von Vorschriften zur Regelung der Situation, die sich aus dem Verlust eines dieser Rechte ergibt, insbesondere im Fall des Wegzugs des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat. [...]

75 Im vorliegenden Fall hatte Frau Chenchooliah nach ihrer Eheschließung mit einem Unionsbürger, der in Irland von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machte, eine Zeit lang ein Recht auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38.

76 Nach dem Wegzug ihres Ehegatten verlor sie dieses Aufenthaltsrecht jedoch, da sie nicht mehr die Voraussetzung erfüllte, dass sie einen von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machenden Unionsbürger begleitete oder ihm nachzog, was zur Ablehnung ihres Antrags auf Gewährung eines Aufenthaltsrechts nach Art. 7 der Richtlinie führte.

77 Da eine solche Situation – wie in Rn. 66 des vorliegenden Urteils ausgeführt – nicht zu den von den Art. 12 Abs. 2 und 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 erfassten Fällen der Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, gehört, darf der Aufnahmemitgliedstaat nach Art. 15 der Richtlinie gegenüber Frau Chenchooliah eine Ausweisungsverfügung erlassen. Eine solche Ausweisungsverfügung darf jedoch nur unter Beachtung der in dieser Bestimmung aufgestellten Anforderungen ergehen. [...]

89 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 15 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Entscheidung anwendbar ist, mit der in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der ein Drittstaatsangehöriger einen Unionsbürger zu einem Zeitpunkt heiratete, als dieser von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machte, indem er sich in den Aufnahmemitgliedstaat begab und sich dort mit dem Drittstaatsangehörigen aufhielt, anschließend aber in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrte, die Ausweisung des Drittstaatsangehörigen verfügt wird, weil er nicht mehr über ein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie verfügt. Folglich sind die einschlägigen in den Art. 30 und 31 der Richtlinie 2004/38 aufgestellten Garantien beim Erlass einer solchen Ausweisungsverfügung, die nicht mit einem Einreiseverbot einhergehen darf, heranzuziehen. [...]