EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 02.10.2019 - C-93/18 Bajratari gg. Vereinigtes Königreich - asyl.net: M27673
https://www.asyl.net/rsdb/m27673
Leitsatz:

Existenzmittel als Grundlage des Freizügigkeitsrechts können auch aus illegaler Beschäftigung stammen:

Die ausreichenden Existenzmittel minderjähriger Unionsstaatsangehöriger können auch aus einer Beschäftigung stammen, der ein drittstaatsangehöriger Elternteil ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in diesem Mitgliedstaat nachgeht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unionsbürger, Drittstaatsangehörige, freizügigkeitsberechtigt, Aufenthaltskarte, Arbeitserlaubnis, Arbeitsgenehmigung, Beschäftigungserlaubnis, Sicherung des Lebensunterhalts, Schwarzarbeit, illegale Beschäftigung, Einkünfte, Einkommen, ausreichende Existenzmittel, Ermira Bajratari, Vereinigtes Königreich
Normen: RL 2004/28 Art. 7 Abs. 1 Bstb. b
Auszüge:

[...]

30 Insbesondere in Bezug auf die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 genannte Voraussetzung ausreichender Existenzmittel hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass dem Unionsbürger zwar ausreichende Existenzmittel zur Verfügung stehen müssen, das Unionsrecht in Bezug auf die Herkunft der Mittel jedoch keine Anforderungen enthält, so dass sie auch von einem Drittstaatsangehörigen, der Elternteil der betreffenden minderjährigen Unionsbürger ist, stammen können (Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín, C-165/14, EU:C:2016:675, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31 Somit schließt die Tatsache, dass die Existenzmittel, auf die sich ein minderjähriger Unionsbürger für die Zwecke von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 berufen möchte, aus Mitteln stammen, die von seinem einem Drittstaat angehörenden Elternteil aus der Beschäftigung bezogen werden, der dieser im Aufnahmemitgliedstaat nachgeht, es nicht aus, dass die in dieser Bestimmung genannte Voraussetzung ausreichender Existenzmittel als erfüllt angesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Singh u. a., C-218/14, EU:C:2015:476, Rn. 76).

32 Es ist zu prüfen, ob dies auch gilt, wenn der Elternteil des minderjährigen Unionsbürgers über keine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis im Aufnahmemitgliedstaat verfügt. [...]

35 Da das Recht auf Freizügigkeit als ein grundlegendes Prinzip des Unionsrechts die Grundregel darstellt, sind außerdem, wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 festgelegten Voraussetzungen unter Einhaltung der vom Unionsrecht gezogenen Grenzen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. September 2013, Brey, C-140/12, EU:C:2013:565, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36 Die Beachtung dieses Grundsatzes bedeutet, dass die nationalen Maßnahmen, die bei der Anwendung der in dieser Bestimmung vorgeschriebenen Voraussetzungen und Beschränkungen getroffen werden, zur Erreichung des verfolgten Ziels, nämlich dem Schutz der öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Singh u. a., C-218/14, EU:C:2015:476, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung), geeignet und erforderlich sein müssen (vgl. in diesem Sinne in Bezug auf die Instrumente des Unionsrechts vor der Richtlinie 2004/38 Urteil vom 23. März 2006, Kommission/Belgien, C-408/03, EU:C:2006:192, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37 Es trifft insoweit zu, dass dann, wenn die Existenzmittel, über die ein minderjähriger Unionsbürger verfügt, um für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie während seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat aufzukommen, aus Einkünften stammen, die aus einer Beschäftigung bezogen werden, der sein aus einem Drittland stammender und nicht über eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verfügender Elternteil in diesem Mitgliedstaat nachgeht, in Anbetracht von dessen prekärer Situation und wegen des illegalen Charakters seines Aufenthalts das Risiko, dass ein Wegfall ausreichender Existenzmittel eintritt und dieser minderjährige Unionsbürger Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen muss, größer ist.

38 Aus dieser Perspektive betrachtet würde eine nationale Maßnahme, die darin besteht, solche Einkünfte vom Begriff "ausreichende Existenzmittel" im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 auszuschließen, gewiss die Erreichung des von dieser Bestimmung verfolgten Ziels ermöglichen.

39 Es ist jedoch hervorzuheben, dass die Richtlinie 2004/38 zum Schutz der berechtigten Interessen des Aufnahmemitgliedstaats Vorschriften enthält, die es diesem ermöglichen, im Fall des tatsächlichen Wegfalls der finanziellen Mittel tätig zu werden, um zu verhindern, dass der Inhaber des Aufenthaltsrechts den öffentlichen Finanzen dieses Mitgliedstaats zur Last fällt. [...]

42 Unter diesen Umständen würde mit einer Auslegung der in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 genannten Voraussetzung ausreichender Existenzmittel dahin, dass ein minderjähriger Unionsbürger sich für die Zwecke dieser Bestimmung nicht auf die Einkünfte berufen darf, die aus einer Beschäftigung bezogen werden, der sein einem Drittland angehörender und nicht über eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in diesem Aufnahmemitgliedstaat verfügender Elternteil dort nachgeht, dieser Voraussetzung eine Anforderung in Bezug auf die Herkunft der von diesem Elternteil bereitgestellten Existenzmittel hinzugefügt, die einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Ausübung des durch Art. 21 AEUV gewährleisteten Grundrechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt des betreffenden minderjährigen Unionsbürgers darstellen würde, da es für die Erreichung des verfolgten Ziels nicht erforderlich ist. [...]