EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 19.09.2019 - C-544/18 Vereinigtes Königreich gg. Dakneviciute - asyl.net: M27909
https://www.asyl.net/rsdb/m27909
Leitsatz:

Eigenschaft als Selbständige bleibt auch bei kurzer Unterbrechung der Tätigkeit wegen Schwangerschaft erhalten:

Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass eine Frau, die eine selbständige Tätigkeit wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt aufgibt, ihre Eigenschaft als Selbständige behält, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes diese Tätigkeit wieder aufnimmt oder eine andere selbständige Beschäftigung findet.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unionsbürger, Unionsbürgerin, Schwangerschaft, Arbeitnehmereigenschaft, Arbeitnehmerbegriff, selbständige Erwerbstätigkeit, Mutterschaftsleistungen, Mutterschaft, Mutterschutz, EU-Staatsangehörige, Erwerbstätigeneigenschaft, Vereinigtes Königreich, Henrika Dakneviciute
Normen: AEUV Art. 267, AEUV Art. 49, AEUV Art. 45,
Auszüge:

[...]

27 Der Gerichtshof hat aber entschieden, dass Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38, in dem die Fälle aufgeführt sind, in denen einem Unionsbürger, der keine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger mehr ausübt, diese Eigenschaft und das damit verbundene Aufenthaltsrecht trotzdem erhalten bleibt, nicht den Fall einer Frau erfasst, die ihre Erwerbstätigkeit wegen des Spätstadiums ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes vorübergehend aufgibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2014, Saint Prix, C-507/12, EU:C:2014:2007, Rn. 30).

28 Er hat gleichwohl festgestellt, dass Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 die Fälle, in denen einem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat nicht mehr ausübt, die Erwerbstätigeneigenschaft für die Zwecke des Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie dennoch erhalten bleibt, nicht abschließend aufzählt (Urteil vom 11. April 2019, Tarola, C-483/17, EU:C:2019:309, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29 Der Gerichtshof hat insbesondere entschieden, dass die Tatsache, dass die körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und unmittelbar nach der Geburt des Kindes eine Frau dazu zwingen, ihre Erwerbstätigkeit während des für ihre Erholung erforderlichen Zeitraums aufzugeben, grundsätzlich nicht geeignet ist, ihr die "Arbeitnehmereigenschaft" im Sinne von Art. 45 AEUV abzusprechen. Der Umstand, dass eine solche Person dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats während einiger Monate tatsächlich nicht zur Verfügung gestanden hat, bedeutet nämlich nicht, dass sie während dieser Zeit nicht weiterhin in den betreffenden Arbeitsmarkt eingegliedert ist, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt des Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Beschäftigung findet (Urteil vom 19. Juni 2014, Saint Prix, C-507/12, EU:C:2014:2007, Rn. 40 und 41).

30 Im vorliegenden Fall fragt sich das vorlegende Gericht, ob die in der vorstehenden Randnummer angeführte Auslegung, die im Rahmen einer Situation erfolgt ist, die unter Art. 45 AEUV fällt, auf den Fall einer Person übertragen werden kann, die eine selbständige Tätigkeit im Sinne von Art. 49 AEUV ausübt. 31 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Art. 45 und 49 AEUV den gleichen rechtlichen Schutz gewährleisten, so dass es auf die Qualifizierung der wirtschaftlichen Tätigkeit insoweit nicht ankommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Februar 1991, Roux, C-363/89, EU:C:1991:41, Rn. 23).

32 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sollen nämlich sämtliche Bestimmungen des Vertrags über die Freizügigkeit den Unionsangehörigen die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern und stehen Maßnahmen entgegen, die sie benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als ihres Herkunftsmitgliedstaats eine Tätigkeit ausüben wollen (Urteil vom 20. Dezember 2017, Simma Federspiel, C-419/16, EU:C:2017:997, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33 Eine Unionsbürgerin würde aber von der Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit abgehalten, wenn sie für den Fall ihrer Schwangerschaft im Aufnahmemitgliedstaat und der dadurch bedingten, sei es auch noch so kurzzeitigen, Aufgabe ihrer selbständigen Erwerbstätigkeit Gefahr liefe, die Eigenschaft als Selbständige in diesem Staat zu verlieren (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Juni 2014, Saint Prix, C-507/12, EU:C:2014:2007, Rn. 44).

34 Folglich muss einer Frau, die sich in der in Rn. 29 des vorliegenden Urteils dargelegten Situation befindet, die Eigenschaft als Person, die eine selbständige Tätigkeit im Sinne von Art. 49 AEUV ausübt, unter den gleichen Bedingungen erhalten bleiben können.

35 Außerdem hat der Gerichtshof anerkannt, dass sich Personen, die eine unselbständige Tätigkeit ausüben, und Personen, die eine selbständige Tätigkeit ausüben, in einer vergleichbar schwierigen Lage befinden, wenn sie gezwungen sind, ihre Tätigkeit aufzugeben, und demnach in Bezug auf die Aufrechterhaltung ihres Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat nicht ungleich behandelt werden dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Gusa, C-442/16, EU:C:2017:1004, Rn. 42 und 43).

36 Frauen, die schwanger werden, befinden sich aber in einer vergleichbar schwierigen Situation, unabhängig davon, ob sie eine unselbständige oder eine selbständige Tätigkeit ausüben.

37 Der Unionsgesetzgeber hat die wirtschaftliche und körperliche Verletzlichkeit von schwangeren selbständigen Erwerbstätigen im 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/41 ausdrücklich anerkannt. Daher verpflichtet Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass selbständig erwerbstätige Frauen ausreichende Mutterschaftsleistungen erhalten können, die eine Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft unter Bedingungen ermöglichen, die denjenigen für unselbständig Beschäftigte entsprechen. [...]