VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 17.12.2019 - 17 K 216.17 A - asyl.net: M28034
https://www.asyl.net/rsdb/M28034
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für jungen, arbeitsfähigen Mann aus Afghanistan, der im Iran aufgewachsen ist: 

Auch junge arbeitsfähige Männer können nach der Rückkehr nach Afghanistan das Existenzminimum nur erwirtschaften, wenn sie über ein familiäres Netzwerk, eine berufliche Qualifikation oder Arbeitserfahrung verfügen. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor und bestehen zudem psychische Einschränkungen, ist ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, faktischer Iraner, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Existenzminimum, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen, insbesondere dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand September 2019), dem Afghanistan Update der Schweizer Flüchtlingshilfe zu den Gefährdungsprofilen vom 12. September 2018 sowie den Richtlinien des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen - UNHCR - zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, stellt sich die Lage wie folgt dar.

Afghanistan ist trotz großer internationaler Unterstützung in Höhe von circa 95 % des afghanischen Staatshaushalts und erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung eines der ärmsten Länder der Welt und das ärmste Land der Region. Seit der Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 ringt die afghanische Wirtschaft neben der schwierigen Sicherheitslage mit sinkenden Internationalen Investitionen und einer stark schrumpfenden Nachfrage nach Wirtschaftsgütern und Dienstleistungen. Das Wirtschaftswachstum liegt deutlich unter dem erforderlichen Wert für ein Land mit einem derart rapiden Bevölkerungswachstum und einer hohen Zahl an Binnenvertriebenen und Rückkehrern aus den Nachbarländern, die in den Arbeitsmarkt eintreten. Dementsprechend stieg die Arbeitslosenquote im Jahr 2016 auf circa 40 %, wobei zu beachten ist, dass eine staatliche finanzielle Unterstützung bei Arbeitslosigkeit nicht stattfindet. Die hohe Arbeitslosigkeit verstärkt sich durch vielfältige Naturkatastrophen, so dass es für große Teile der Bevölkerung sehr schwierig ist, die Grundversorgung sicherzustellen. Von den Erwerbstätigen gehören 80 % aufgrund von Jobunsicherheit oder schlechten Arbeitsbedingungen zu den verletzlichen Personen und 20 % der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sind unterbeschäftigt. Aufgrund der meist sehr schlechten Bezahlung ist die Armutsrate der Erwerbstätigen in Vollzeit kaum tiefer als die der Arbeitslosen - bei den Unterbeschäftigten liegt diese sogar höher. Die Armutsrate beträgt in Afghanistan inzwischen circa 55 %, wobei mehr als ein Drittel der Bevölkerung von weniger als 1,25 US-Dollar am Tag leben. Circa 8,7 Millionen Menschen befinden sich aufgrund struktureller Defizite in chronischer Not und circa 2,1 Millionen dieser Menschen leben in Gebieten, in welchen das Ausmaß der Armut katastrophale Dimensionen erreicht hat. Circa 1,9 Millionen Menschen sind von ernsthafter Lebensmittelunsicherheit betroffen, über 1,6 Millionen Kinder leiden an akuter Mangelernährung und fast jedes zehnte Kind stirbt vor seinem fünften Geburtstag. Zu den gravierendsten Problemen zählt zudem neben der großen Anzahl der Binnenvertriebenen, der Zunahme ansteckender und auch psychischer Erkrankungen und der steigenden Kriminalitätsrate die Wohnraumknappheit - vor allem in Kabul. Zugang zu sauberem Trinkwasser hat nur knapp die Hälfte der Bevölkerung. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte fehlt es vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist für mehr als ein Drittel der Bevölkerung nicht gegeben, und es fehlen landesweit Medikamente, hinreichende Klinikausstattung und Fachpersonal.

Diese schwierige humanitäre Situation wird für Rückkehrer durch Rückkehrförderprogramme teilweise abgemildert. Zudem können Rückkehrer in aller Regel sowohl im Herkunftsland als auch in den Nachbarländern mit der Unterstützung familiärer Bezugspersonen rechnen; sie werden erfahrungsgemäß nicht verstoßen und selbst bei entfernten Verwandten zumindest zeitweise aufgenommen. Zu bedenken ist ferner, dass diejenigen, denen es gelungen ist, bis nach Europa zu kommen, zum mobileren Teil der Bevölkerung zählen, die es erfahrungsgemäß bei einer Rückkehr eher schaffen, ihre Beziehungen so zu gestalten, dass sie ihr Leben sichern können. Insoweit zählen ohnehin soziale Kompetenzen, wie Durchsetzungs- und Kommunikationsfähigkeit, mehr als eine Ausbildung, so etwa für den Start eines Kleinhandels, den Rückkehrer auch eher eröffnen, als sich der Konkurrenz um Aushilfsjobs zu stellen. Für Aushilfsjobs bzw. Tagelöhnerjobs ist die körperliche Konstitution maßgeblich, bei handwerklichen Tätigkeiten das Vorhandensein von eigenem Werkzeug und bei längerfristigen Arbeitsverhältnissen eine Vermittlung über einen Stammes- oder Clanzugehörigen (so VG Berlin, Urteil vom 14. Juni 2017 - VG 16 K 207.17 A -, juris Rn. 40 ff.).

Der UNHCR Ist Im August 2018 trotz der schlechten Wirtschaftslage und der verschärften Konkurrenzsituation weiter zu dem Ergebnis gelangt, dass alleinstehende, leistungsfähige Männer sowie.verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne festgestellten Schutzbedarf unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen leben können, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen. Zum gleichen Ergebnis kam das European Asylum Support Office (EASO) im Country Guidance: Afghanistan im Juni 2019.

Es steht dennoch zur Überzeugung des Gerichts in diesem besonderen Einzelfall fest, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht dazu in der Lage sein wird, sein Existenzminimum zu sichern und insofern seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Zwar mag grundsätzlich davon ausgegangen werden können, dass alleinstehende und leistungsfähige Männer in Afghanistan - jedenfalls in größeren Städten - ihre Existenz zu sichern in der Lage sind. Im Fall des Klägers liegt jedoch ein Ausnahmefall vor, da er Besonderheiten aufweist, die ihn im Verhältnis zu anderen Männern in Afghanistan im Konkurrenzkampf um existenzsichernde Tätigkeiten wesentlich benachteiligen.

Es stellt sich als überaus nachteilig für den Kläger dar, dass er nicht über besonderen Qualifikationen verfügt, mit denen er sich am afghanischen Arbeitsmarkt von den anderen Männern abheben kann. Er hat die Schule im Iran abgebrochen. Seine berufspraktischen Erfahrungen auf dem iranischen Arbeitsmarkt beschränken sich. auf ungelernte und untergeordnete Tätigkeiten auf dem Bau. Seine schulischen Fortschritte in Deutschland konnte er laut dem Hilfeplan des Bezirksamtes Tempelhof-Schöneberg von Berlin vom 21. Juni 2019 nur mit erheblicher Unterstützung seiner ehemaligen Vormünderin erzielen.

Die in seinem Fall für die Vermittlung einer Arbeitsstelle zwingend erforderliche Hilfe durch ein wie auch immer geartetes soziales Netzwerk steht dem Kläger in Afghanistan nicht zur Verfügung. Er hat keine Verwandten in Afghanistan. Nach seinen glaubhaften Angaben bei der Anhörung und in der mündlichen Verhandlung leben mittlerweile alle Verwandten im Iran.

Das Gericht ist zudem überzeugt davon, dass er als sogenannter faktischer Iraner, der bereits mit vier bis fünf Jahren mit seiner Familie in den Iran gegangen ist und seitdem dort ausschließlich gelebt hat, mit Afghanistan und den dort herrschenden Regeln in wesentlichen Bereichen nicht vertraut ist. Auch wenn vielfach betont wird, dass der Iran ebenfalls ein muslimisch geprägtes Land ist, dürften die dortigen Erfahrungen des Klägers nur in Ansätzen verwertbar sein und ihn nicht zwangsläufig dazu befähigen, auch in Afghanistan sein Leben zu bestreiten. Dabei ist in diesem Einzelfall entscheidend, dass der Kläger aufgrund seiner Sprache, die einen erheblichen iranischen Akzent aufweist, sehr deutlich als Rückkehrer aus dem Iran zu identifizieren ist. Rückkehrer aus dem Iran sind regelmäßig Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt und haben kaum Zugang zu Lebensgrundlagen, Nahrungsmitteln und Unterkünften (Richtlinien des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen - UNHCR - zur Feststellung des internationalen Schutzes afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, S. 41 f.).

Schließlich hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass es dem Kläger auch aufgrund seiner schlechten psychischen Verfassung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht gelingen wird, sein Leben in Afghanistan allein zu organisieren und erst recht nicht, ohne Hilfe eine Unterkunft zu finden oder sich auf dem hart umkämpften Tagelöhnermarkt durchzusetzen. Auch wenn der Kläger keine den höchstrichterlichen Anforderungen an die Glaubhaftmachung psychischer Erkrankungen genügende ärztliche Atteste über seine psychische Erkrankung vorgelegt hat, entstand beim Gericht aufgrund der vorgelegten fachpsychologischen Stellungnahme vom ... 2019 sowie aufgrund des Verhaltens des Klägers in der mündlichen Verhandlung der Eindruck, dass seine psychische Belastbarkeit erheblich eingeschränkt ist. [...]