VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 18.06.2020 - 8 K 3961/17.A - asyl.net: M28667
https://www.asyl.net/rsdb/m28667
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für Palästinenser aus Libanon:

Die Situation palästinensischer Geflüchteter im Libanon ist schwierig. Soweit jedoch keine besonderen Umstände hinzutreten, ist es Palästinenser*innen, die nicht zur Gruppe der "Non-ID Palestinians" zählen, zumutbar, im Libanon den Schutz der UNRWA in Anspruch zu nehmen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Libanon, Palästinenser, UNRWA, Abschiebungsverbot, humanitäre Gründe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Die Situation der rund 200.000 palästinensischen Flüchtlinge, die sich – im Gegensatz zu den palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien – dauerhaft im Libanon aufhalten, stellt sich nach den vorliegenden Erkenntnismitteln wie folgt dar: Palästinensischen Flüchtlingen werden weiterhin zahlreiche politische und wirtschaftliche Rechte verwehrt. Seit dem Jahr 2001 dürfen sie – anders als andere Ausländer – im Libanon keinen Grund und Boden mehr erwerben (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon, Stand November 2019, 24. Januar 2020, S.12; US-Außenministerium, Country Report on Human Rights Practices 2019 – Lebanon, 11. März 2020, S. 25; Republik Österreich - Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Libanon, 12. September 2018, S. 48). Ausländern, zu denen die palästinensischen Flüchtlinge ohne libanesische Staatsangehörigkeit zählen, ist die Gründung von Nicht-Regierungs-Organisationen ohne libanesische Partner de facto unmöglich (Auswärtiges Amt, a.a.O., S.10; Republik Österreich, a.a.O., S. 21, 28). Sie sind von der Ausübung zahlreicher Berufe (z.B. Arzt, Rechtsanwalt oder Ingenieur) ausgeschlossen. Im Übrigen wird von ihnen stets eine Arbeitserlaubnis verlangt. Aufgrund weiterer informeller Beschränkungen, bürokratischer Hürden und sozialer Stigmatisierung befinden sie sich häufig in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen (US-Außenministerium, a.a.O., S. 24; Auswärtiges Amt, a.a.O., S.12; Republik Österreich, a.a.O., S. 48). Sie haben keinen Zugang zu staatlichen Schulen, sondern lediglich zu den (unterfinanzierten) UNRWA-Schulen. Palästinensische Studenten müssen sich auf die für Ausländer reservierten 10 % der Studienplätze an staatlichen Hochschulen bewerben (Auswärtiges Amt, a.a.O., S.12; Republik Österreich, a.a.O., S. 49 f.). Nur Frauen haben die Möglichkeit, durch Heirat die libanesische Staatsbürgerschaft zu erlangen, was durch die Verwaltung häufig zusätzlich erschwert wird (Auswärtiges Amt, a.a.O., S.12; Republik Österreich, a.a.O., S. 48). Kinder können die libanesische Staatsangehörigkeit nur vom Vater erwerben (US-Außenministerium, a.a.O., S. 26; Republik Österreich, a.a.O., S. 37 f.). Im Jahr 2019 wurde die Errichtung neuer Wohnungen in den Flüchtlingslagern durch eine Verschärfung der Bauvorschriften (beschränkte Nutzung von Beton und ähnlichen Materialien) zusätzlich erschwert, tausende Behausungen wurden in der Folge abgerissen bzw. zerstört (US-Außenministerium, a.a.O., S. 20). Sozialleistungen des libanesischen Staates sind palästinensischen Flüchtlingen entweder nicht oder nur in eingeschränktem Umfang zugänglich (US-Außenministerium, a.a.O., S. 24 f.; Republik Österreich, a.a.O., S. 48 f.).

In einer besonders schwierigen Lage befinden sich die ca. 3.000 sogenannten "Non-ID-Palestinians", die weder bei der UNRWA noch dem libanesischen Staat registriert sind, und wegen illegalen Aufenthaltes verhaftet werden können, sobald sie die Flüchtlingslager verlassen (Auswärtiges Amt, a.a.O., S.13; US-Außenministerium, a.a.O., S. 26 f.; Republik Österreich, a.a.O., S. 50). Zu dieser Gruppe zählt der Kläger jedoch nicht. [...]

cc. Dem Kläger drohen auch keine menschenunwürdigen Lebensbedingungen bei einer Rückkehr in das UNRWA-Einsatzgebiet im Libanon, weil er sich dort aufgrund der humanitären Lage einer existenzbedrohenden wirtschaftlichen (1) oder gesundheitlichen (2) Situation befinden würde. [...]

Das ist bei dem Kläger nicht der Fall. Es ist ihm grundsätzlich möglich, in den Libanon in das Flüchtlingslager Ein El Hilweh zu seinen Eltern und seinen dort lebenden drei Schwestern und fünf Brüdern zurückzukehren. Allerdings herrschen dort prekäre Lebensbedingungen. Alle Lager sind massiv von den Hilfeleistungen der chronisch unterfinanzierten UNRWA abhängig (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon, Stand November 2019, 24. Januar 2020, S.12). Die Lage der chronisch unterfinanzierten UNRWA hat sich seit Mitte 2018 durch die massive Kürzung der Unterstützung der USA weiter zugespitzt (Auswärtiges Amt, a.a.O.), doch leistet die UNRWA registrierten palästinensischen Flüchtlingen weiterhin grundlegende Unterstützung, welche die Grund- und Berufsausbildung, die medizinische Grundversorgung, Hilfs- und Sozialdienste, die Verbesserung der Infrastruktur und der Lager, Mikrofinanzierung und Notfallmaßnahmen umfassen (Republik Österreich - Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Libanon, Stand 12. September 2018, S. 46; US-Außenministerium, Country Report on Human Rights Practices 2019 - Lebanon, 11. März 2020, S. 25).

Die Verhältnisse in den Flüchtlingslagern sind geprägt von Armut, Arbeitslosigkeit, teilweise desaströsen Wohnverhältnissen, fehlender Infrastruktur und Überbelegung (Österreich, a.a.O., S. 49; OCHA, Ein El Hilweh Camp profile, 7. Dezember 2017). 65 % der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon leben unter der Armutsgrenze, rund 3 % in extremer Armut und 23 % sind arbeitslos (OCHA, a.a.O.; Australian Government, Department of Foreign Affairs and Trade, DFAT Country Information Report Lebanon, 23. Oktober 2017, S. 12; MedCOI, Country Fact Sheet - Access to healthcare: Lebanon, Dezember 2016, S. 114; Finnish Immigration Service, Syrian and Palestinian refugees in Lebanon, 29. September 2016, S. 9 f.).

Der Kläger ist ein junger und gesunder Mann, der vor seiner Ausreise aus dem Libanon als Fliesenleger und Maler gearbeitet hat und in der Lage war, 2000 US-Dollar für die Reise nach Deutschland anzusparen. Es ist daher davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr in den Libanon – auch mit Unterstützung seiner Eltern und seiner acht Geschwister, von denen zwei nach Angaben des Klägers einer Arbeit nachgehen – seine elementaren Bedürfnisse und sein Existenzminimum sichern kann. [...]