EuGH

Merkliste
Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 16.07.2020 - C-133/19, C-136/19, C-137/19 B.M.M. u.a. gg. Belgien - asyl.net: M28868
https://www.asyl.net/rsdb/m28868
Leitsatz:

Entscheidender Zeitpunkt zur Altersbestimmung beim Kindernachzug ist der Visumsantrag:

Nach der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG besteht ein Anspruch auf Familiennachzug von minderjährigen Kindern zu ihren Eltern, wenn diese als Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt sind. Entscheidender Zeitpunkt für die Altersbestimmung der Kinder ist der Zeitpunkt des Visumsantrags auf Nachzug, nicht jedoch der Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde über den Antrag entscheidet.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familiennachzug, Kindernachzug, Flüchtlingsanerkennung, minderjährig, Volljährigkeit, Familienzusammenführung, Beurteilungszeitpunkt, Familienzusammenführungsrichtlinie, Frist, Flüchtlingsanerkennung, Visumsantrag, Visumsverfahren,
Normen: RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1 Bst. b, RL 2003/86/EG Art. 10 Abs. 3 Bst. a, RL 2003/86/EG Art. 2 Bst. f,
Auszüge:

[...]

24 Mit seiner ersten Frage in den Rechtssachen C-133/19 und C-136/19 sowie mit seiner Frage in der Rechtssache C-137/19 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen ist, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein "minderjähriges Kind" im Sinne dieser Bestimmung ist, derjenige Zeitpunkt ist, zu dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder gestellt wird, oder derjenige Zeitpunkt, zu dem durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, gegebenenfalls nachdem ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags eingelegt wurde, über den Antrag entschieden wird. [...]

35 Daraus folgt, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 im Licht des Art. 7 und des Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta ausgelegt und angewandt werden müssen, wie sich im Übrigen aus dem Wortlaut des zweiten Erwägungsgrundes und des Art. 5 Abs. 5 dieser Richtlinie ergibt, wonach die Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohles der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, prüfen müssen (Urteil vom 13. März 2019, E., C-635/17, EU:C:2019:192, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36 Erstens ist festzustellen, dass, wenn als Zeitpunkt, auf den für die Beurteilung des Alters des Antragstellers für die Anwendung von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 abzustellen ist, derjenige zugrunde gelegt würde, zu dem die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidet, dies weder mit den Zielen dieser Richtlinie noch mit den sich aus Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta ergebenden Anforderungen vereinbar wäre; die letztgenannte Bestimmung verlangt nämlich, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, insbesondere bei den Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Richtlinie 2003/86 treffen, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss.

37 Wie der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, hätten die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte dann nämlich keine Veranlassung, die Anträge Minderjähriger mit der erforderlichen Dringlichkeit vorrangig zu bearbeiten, um ihrer Schutzbedürftigkeit Rechnung zu tragen, und könnten somit in einer die Rechte dieser Minderjährigen auf Familienzusammenführung gefährdenden Weise handeln (vgl. entsprechend Urteil vom 12. April 2018, A und S, C-550/16, EU:C:2018:248, Rn. 58). [...]

42 Zweitens könnte eine solche Auslegung auch nicht im Einklang mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit eine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, gewährleisten, da sie dazu führen würde, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung hauptsächlich von Umständen abhinge, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen, insbesondere von der mehr oder weniger zügigen Bearbeitung des Antrags oder von der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen eine einen solchen Antrag ablehnende Entscheidung, und nicht von Umständen, die in der Sphäre des Antragstellers liegen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. April 2018, A und S, C-550/16, EU:C:2018:248, Rn. 55 und 60). [...]

47 Folglich ist auf die erste Frage in den Rechtssachen C-133/19 und C-136/19 sowie auf die Frage in der Rechtssache C-137/19 zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen ist, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein minderjähriges Kind im Sinne dieser Bestimmung ist, derjenige Zeitpunkt ist, zu dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder gestellt wird, und nicht derjenige Zeitpunkt, zu dem durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, gegebenenfalls nachdem ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags eingelegt wurde, über den Antrag entschieden wird. [...]