VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.07.2020 - A 2 S 873/19 - asyl.net: M28917
https://www.asyl.net/rsdb/m28917
Leitsatz:

Verletzung von Beweiswürdigungsgrundsätzen als Berufungszulassungsgrund:

"1. Die Rüge eines Asylklägers, die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts sei objektiv willkürlich bzw. mit der Würdigung würden allgemeine Erfahrungssätze überschritten, führt im Asylverfahren grundsätzlich nicht zur Zulassung der Berufung; ein solcher Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist kein in § 138 VwGO aufgeführter Verfahrensmangel und kann daher - selbst wenn er vorliegt - nicht zur Berufungszulassung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG führen.

2. Bei Verstößen gegen Beweiswürdigungsgrundsätze ist gleichzeitig eine Verletzung rechtlichen Gehörs im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG nur dann gegeben, wenn das Verwaltungsgericht seiner Beweiswürdigung einen akten- bzw. protokollwidrigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat und dementsprechend über entscheidungserhebliches Parteivorbringen hinweggegangen ist."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Beweismittel, Beweiswürdigung, Beweiswürdigungsgrundsätze, rechtliches Gehör, Verfahrensfehler, China, Kirche des Allmächtigen Gottes, religiöse Verfolgung, Christen, Glaubhaftigkeit, Glaubhaftigkeitskriterien, Berufungszulassungsantrag, Übersetzung, Dolmetscher,
Normen: VwGO § 138, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, VwGO § 108 Abs. 1, GG Art. 103 Abs. 1, § 173 VwGO § 295 Abs. 1 ZPO
Auszüge:

[...]

1. Zu Unrecht rügt die Klägerin, das Verwaltungsgericht habe zur Begründung seiner Auffassung, ihr Vorbringen zur Vorverfolgung in China sei unsubstantiiert und vage, auf allgemein zugängliche Quellen über das Vorgehen chinesischer Sicherheitskräfte gegenüber der "Kirche des Allmächtigen Gottes" Bezug genommen und damit seiner Entscheidung gehörswidrig Erkenntnismittel zugrunde gelegt, die nicht in das Verfahren eingeführt worden seien.

Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, dass ein Urteil nur auf solche Tatsachen und Beweismittel (einschließlich Presseberichte und Behördenauskünfte) gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (st. Rspr., vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 01.10.1985 - 9 C 20.85 - juris Rn. 8; Funke-Kaiser in GK-AsylG, § 78 Rn. 322 mwN). Davon ausgehend kann nicht angenommen werden, dass das Verwaltungsgericht Erkenntnismittel nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt und daraus folgend das Recht der Klägerin, sich zu entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern, verletzt hat.

Das Verwaltungsgericht ist bei der Würdigung der klägerischen Aussage in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung gelangt, dass die Klägerin nicht in der Lage gewesen sei, ihre Furcht vor Verfolgung so anschaulich darzulegen, wie man es von einem tatsächlich vorverfolgten Asylbewerber erwarten würde. Insbesondere sei ihr Vorbringen im Wesentlichen auf das Kerngeschehen reduziert gewesen. Dieses sei zudem unsubstantiiert und vage geblieben, so dass der Klägerin insgesamt nicht geglaubt werden könne. Es sei vielmehr der deutliche Eindruck entstanden, dass sich die Klägerin allgemein zugänglicher Quellen über das Vorgehen chinesischer Sicherheitskräfte gegenüber der "Kirche des Allmächtigen Gottes" bedient habe. Im Anschluss daran hat das Verwaltungsgericht im Einzelnen erläutert, dass die Aussage der Klägerin zum Kerngeschehen ihres angeblichen Verfolgungsschicksals keine sogenannten Realkennzeichen aufgewiesen habe, deren Auftreten in einer Aussage als Hinweis auf die Glaubhaftigkeit der Angaben gilt (vgl. dazu etwa BGH, Urteil vom 30.07.1999 - 1 StR 618/98 - NJW 1999, 2746 - juris Rn. 19 ff.).

Danach hat das Verwaltungsgericht - bei der vorzunehmenden Gesamtschau seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung - die Verfolgungsgeschichte der Klägerin deshalb als unglaubhaft erachtet, weil diese unsubstantiiert und vage geblieben sei bzw. die Aussage keine "positiven Glaubhaftigkeitsmerkmale" aufgewiesen habe. Vor dem Hintergrund dieser im Einzelnen erläuterten Würdigung der Aussage handelt es sich bei der Formulierung des Verwaltungsgerichts "es entstand vielmehr der deutliche Eindruck, dass sich die Klägerin allgemein zugänglicher Quellen über das Vorgehen chinesischer Sicherheitskräfte gegenüber der KdAG bedient hat" um eine nochmalige floskelhafte Umschreibung des gefundenen Ergebnisses. Das Verwaltungsgericht bringt damit im Hinblick auf die festgestellte Unglaubhaftigkeit der klägerischen Angaben gleichsam "als Kehrseite" zum Ausdruck, dass die Klägerin sich einer "erfundenen" Verfolgungsgeschichte bedient hat. Eine Würdigung, die über die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Analyse der Aussage der Klägerin und die in diesem Zusammenhang festgestellte Unglaubhaftigkeit hinausgeht, ist mit der zitierten Formulierung ersichtlich nicht verbunden. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang deshalb in der Sache keine Erkenntnismittel ausgewertet, die der Klägerin nicht zur Verfügung gestanden haben.

Im Übrigen bestand für das Verwaltungsgericht auch deshalb kein Anlass, die Klägerin ausdrücklich auf "allgemein zugängliche Quellen über das Vorgehen chinesischer Sicherheitskräfte gegenüber der Kirche des Allmächtigen Gottes" hinzuweisen, weil solche Erkenntnisse der Klägerin bekannt sein mussten und auch bekannt waren. [...]

2. Ohne Erfolg rügt die Antragsschrift ferner, das Verwaltungsgericht habe mit seinen Ausführungen im Tatbestand, "die Klägerin habe mit Schreiben vom 09.11.2018 erstmals im Klageverfahren geltend gemacht, dass ihr bei einer Rückkehr nach China wegen ihres Glaubens und ihrer Zugehörigkeit zur Kirche des Allmächtigen Gottes Gefahren für Leib und Leben drohten", entscheidungserhebliches Parteivorbringen nicht zur Kenntnis genommen und damit ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Die Klägerin beruft sich in diesem Zusammenhang sinngemäß darauf, sie habe bereits bei ihrer Anhörung beim Bundesamt im September 2016 vorgetragen, sie sei in China aus religiösen Gründen unterdrückt worden bzw. sie habe China aufgrund religiöser Gründe verlassen, weil die Polizei ihre Familie beobachtet und ihr Haus durchsucht habe.

Danach hat die Klägerin bei ihrer Bundesamtsanhörung zwar bereits berichtet, dass sie aufgrund ihrer Religion und entsprechender polizeilicher Verfolgung aus China ausgereist sei. Dies hat das Verwaltungsgericht auch ersichtlich zur Kenntnis genommen und im Tatbestand aufgeführt (UA S. 2 2. Absatz). In nicht zu beanstandender Weise hat das Verwaltungsgericht darüber hinaus aber im Anschluss (UA S. 2 4. Absatz) ausgeführt, dass eine religiöse Verfolgung der Klägerin in Anknüpfung an ihre Zugehörigkeit zur Kirche des Allmächtigen Gottes erstmals im Rahmen des Klageverfahrens vorgetragen worden ist. Bei der Anhörung vor dem Bundesamt war noch keine Rede davon, dass die Klägerin dieser Glaubensgemeinschaft angehören will. Dementsprechend hat das Verwaltungsgericht diese Konkretisierung bzw. Steigerung im Vortrag der Klägerin durchaus zutreffend wiedergegeben. [...]

4. Ohne Erfolg wendet sich die Antragsschrift mit der Gehörsrüge gegen die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, bei der Schilderung ihrer Fluchtgründe habe die Klägerin vermieden, konkrete, detaillierte und anschauliche Angaben zu machen, auch sonstige positive Glaubhaftigkeitsmerkmale, die der Wiedergabe eines selbst erlebten Geschehensablaufs gewöhnlich zu entnehmen seien, beispielsweise die Schilderung von Gefühlsbeteiligungen, nebensächlicher oder origineller Details oder eigenpsychischem Erleben, seien nicht zu erkennen gewesen, und schließlich spreche auch ihre logisch strukturierte Erzählweise gegen das Selbsterlebnis der geschilderten Ereignisse.

a) Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind grundsätzlich berufungszulassungsrechtlich unbeachtlich. Denn solche Fehler betreffen nicht den mit der Verfahrensrüge allein der berufungsgerichtlichen Kontrolle zuzuführenden Verfahrensablauf, sondern die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung und sind damit dem sachlichen Recht zuzuordnen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 02.09.2010 - 1 B 18.10 - juris Rn. 2; Beschluss vom 02.11.1995 - 9 B 710.94 - juris Rn. 4 und 5). Auch die Grundsätze der Beweiswürdigung selbst sind grundsätzlich nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.1990 - 4 C 28.89 - juris Rn. 25; vgl. auch Berlit in GK-AsylG, § 78 Rn. 72).

Ist die der Beweiswürdigung vorangehende Tatsachenfeststellung frei von Verfahrensfehlern erfolgt und ist insbesondere eine unzureichende Tatsachengrundlage nicht zugleich auch auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zurückzuführen, bleibt die Sachverhalts- und Beweiswürdigung eine Frage des materiellen Rechts (vgl. Berlit in GK-AsylG, § 78 Rn. 73). Auch ansonsten bezieht sich die Frage, ob das Tatsachengericht auf hinreichend breiter Tatsachengrundlage entschieden hat, auf die Sachverhalts- und Beweiswürdigung und kann daher grundsätzlich keinen Verfahrensmangel begründen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 02.05.2012 - 10 B 10.12 - juris Rn. 7). Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist danach nicht schon dann verletzt, wenn das Gericht zu einer unrichtigen Tatsachenfeststellung im Zusammenhang mit der ihm obliegenden Tätigkeit der Sammlung, Feststellung und Bewertung der von den Beteiligten vorgetragenen Tatsachen gekommen ist (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 12.10.2000 - 2 BvR 941/99 - juris Rn. 1). Ein Gehörsverstoß liegt im Übrigen auch nicht vor, wenn ein Gericht einen vorgetragenen Sachverhalt anders beurteilt, als dies der jeweilige Kläger wünscht und erwartet hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.04.1983 - 2 BvR 678/81 u.a. - BVerfGE 64, 1, 12 - juris Rn. 42; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.12.2011 - A 9 S 2939/11 - juris Rn. 15).

Nach diesen Maßstäben erweisen sich die Rügen, das Verwaltungsgericht habe die Schilderung der Klägerin zu ihren Fluchtgründen zu Unrecht als unkonkret und detailarm bewertet und zu Unrecht das Vorliegen positiver Glaubhaftigkeitsmerkmale in der Aussage verneint bzw. der Unterzeichner der Antragsschrift habe Gegenteiliges erlebt, als Angriff auf die Beweiswürdigung und nicht als Rüge eines Verfahrensverstoßes in Form der Verletzung des rechtlichen Gehörs. Gleiches gilt für die Rüge, das Verwaltungsgericht habe keine Argumente und auch keine Beispiele für seine Bewertung vorgetragen, wonach auch sonstige positive Glaubhaftigkeitsmerkmale, die der Wiedergabe eines selbsterlebten Geschehensablaufs gewöhnlich zu entnehmen seien, beim Vortrag der Klägerin nicht zu erkennen gewesen seien. Die Bewertung des Verwaltungsgerichts, die Schilderung von Gefühlsbeteiligungen, nebensächlicher oder origineller Details oder eigenpsychischem Erleben seien in der Aussage nicht zu erkennen gewesen, kann im Übrigen auch mit Beispielen nur schwer belegt werden, wenn vom Verwaltungsgericht solche Realkennzeichen in der Aussage - wie hier - gerade nicht festgestellt werden konnten.

Schließlich führt auch der Einwand der Antragsschrift, nach der Aussagepsychologie sei der Umstand, dass die Klägerin den Sachverhalt logisch strukturiert vorgetragen habe, entgegen der Einschätzung des Verwaltungsgerichts gerade ein Glaubhaftigkeitsmerkmal, nicht auf den mit der Gehörsrüge angreifbaren Verfahrensablauf, sondern auf die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung. Im Übrigen meint die Antragsschrift zu Unrecht, ein logisch strukturierter Vortrag spräche für die Glaubhaftigkeit der Aussage. Allein die ungesteuerte Aussageweise ist ein Realitätskriterium; je impulsiver und assoziativer, je weniger chronologisch oder nach anderen Gesichtspunkten geordnet, je weniger bewusst auf eine bestimmte Überzeugung des Vernehmenden zielend eine Aussage ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Aussage realitätsbegründet ist (vgl. dazu Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. I, 2. Aufl., Rn. 280).

b) Von der fehlerhaften Sachverhalts- und Beweiswürdigung zu unterscheiden ist aber der Fall, dass das Gericht von einem eindeutig aktenwidrigen Sachverhalt ausgeht. Stützt das Verwaltungsgericht seine Bewertung der Unglaubhaftigkeit eines Asylvorbringens tragend auf Angaben, die der Asylbewerber eindeutig so nicht gemacht hat, oder werden dabei eindeutige Erklärungen bei der Bundesamtsanhörung oder in der mündlichen Verhandlung übergangen, so legt das Verwaltungsgericht einen akten- bzw. protokollwidrigen Sachverhalt zugrunde und verletzt nicht nur den im Asylrecht nicht rügefähigen Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), sondern auch das (rügefähige) rechtliche Gehör (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.04.1997 - 8 C 20.96 - juris Rn. 10 und 12 mwN). Der Sache nach handelt es sich dabei um einen Unterfall der Nichtberücksichtigung von entscheidungserheblichem Vorbringen (so zu Recht Funke-Kaiser in GK-AsylG, § 78 Rn. 263). [...]

c) Ohne Erfolg bleibt schließlich die in diesem Zusammenhang ebenfalls erfolgte Rüge, die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts sei objektiv willkürlich bzw. mit der Würdigung würden allgemeine Erfahrungssätze überschritten. Ein Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann zwar ausnahmsweise insbesondere dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet (st. Rspr., vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.03.2014 - 5 B 48.13 - juris Rn. 22 mwN). Ein solcher Verstoß ist allerdings kein in § 138 VwGO aufgeführter Verfahrensmangel und kann daher - selbst wenn er vorliegt - nicht zur Berufungszulassung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG führen (vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.09.2017 - A 11 S 2067/17 - juris Rn. 28). Die dargestellten gewichtigen Verstöße gegen Beweiswürdigungsgrundsätze und damit eine Verletzung von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO führen auch nicht automatisch auch zu einer im Asyl- und Flüchtlingsrecht rügefähigen Verletzung des rechtlichen Gehörs (aA Bayerischer VGH, Beschluss vom 04.02.2019 - 21 ZB 18.30314 - juris Rn. 8 ohne nähere Begründung und im Übrigen nicht entscheidungstragend). In diesen Fällen ist gleichzeitig eine Verletzung rechtlichen Gehörs nur dann gegeben, wenn das Verwaltungsgericht seiner Beweiswürdigung einen akten- bzw. protokollwidrigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat und dementsprechend über entscheidungserhebliches Parteivorbringen hinweggegangen ist (vgl. dazu Funke-Kaiser in GK-AsylG, § 78 Rn. 263). [...]