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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 24.08.2020 - XIII ZB 75/19 - asyl.net: M29003
https://www.asyl.net/rsdb/m29003
Leitsatz:

Ein Asylsuchender im Dublinverfahren muss über seine Verpflichtung zur Mitteilung eines Aufenthaltswechsels und die mögliche Ingewahrsamnahme bei einem Verstoß dagegen unterrichtet werden. Auch wenn er/sie etwas Deutsch versteht, muss dies in einer Sprache geschehen, die er/sie gut versteht. Ansonsten kann ein einmonatiger Aufenthalt bei einem Freund in einer anderen Stadt nicht als Hinweis darauf gewertet werden, dass er/sie sich der Überstellung entziehen will.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Überstelllungshaft, Dublinverfahren, Fluchtgefahr, flüchtig, Belehrung, Wechsel des Aufenthaltsorts, Aufenthaltswechsel, Dolmetscher, Übersetzung,
Normen: VO 604/2013 Art. 28 Abs. 2, AufenthG § 2 Abs. 15 a. F., AufenthG § 14 Nr. 6 a. F., AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 a. F.
Auszüge:

[...]

10 b) Der festgestellte Sachverhalt ergibt aber den Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO weder in Verbindung mit dem von den Vorinstanzen angenommenen konkreten Anhaltspunkt des nicht angezeigten Aufenthaltswechsels (§ 2 Abs. 15 u. Abs. 14 Nr. 1 AufenthG aF) noch in Verbindung mit den nach dem Sachverhalt noch in Betracht zu ziehenden und im Rechtsbeschwerdeverfahren berücksichtigungsfähigen (BGH, Beschlüsse vom 20. Oktober 2016 V ZB 13/16, juris Rn. 4, und vom 11. Januar 2018 V ZB 28/17, InfAuslR 2018, 184 Rn. 10) konkreten Anhaltspunkten der Entziehung in sonstiger Weise (§ 2 Abs. 15 u. Abs. 14 Nr. 6 AufenthG aF) und des vorzeitigen Verlassens des Erstaufnahmestaats (§ 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG aF).

11 aa) Nach § 2 Abs. 15 und Abs. 14 Nr. 1 AufenthG aF kann ein konkreter Anhaltspunkt für erhebliche Fluchtgefahr im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Dublin III-VO darin liegen, dass sich der Ausländer bereits in der Vergangenheit einem behördlichen Zugriff entzogen hat, indem er seinen Aufenthaltsort trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht nicht nur vorübergehend gewechselt hat, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Diese Voraussetzungen sind nicht festgestellt.

12 (1) Es fehlt schon an einem nicht nur vorübergehenden Wechsel des Aufenthaltsorts. Festgestellt ist nur, dass der Betroffene im zeitlichen Zusammenhang mit dem zweiten Versuch, ihn nach Italien zu überstellen, am 20. Oktober 2016 nicht in seiner Unterkunft, sondern nach seiner Behauptung bei einem Freund in Dortmund war. Das genügt aber für die Annahme eines nicht nur vorübergehenden Aufenthaltswechsels nicht. Der Betroffene hat sich bis auf den mit einem Besuch bei einem Freund erklärten Zeitraum im Bereich der beteiligten Behörde aufgehalten. Er war bei dem ersten, aus technischen Gründen, gescheiterten Abschiebungsversuch am 19. September 2016 anwesend und hat den Termin zur Vorsprache bei der beteiligten Behörde am 13. Oktober 2016 eingehalten, sein Fehlen bei der Vorsprache vom 10. November 2016 durch einen Mitarbeiter der Flüchtlingshilfe mit Krankheit entschuldigen lassen und sich am 19. Dezember 2016 wieder von sich aus bei der beteiligten Behörde gemeldet. Woraus sich ergeben soll, dass die von dem Betroffenen mit dem Besuch bei einem Freund erklärte Ortsabwesenheit in Wirklichkeit kein Besuch, sondern ein nicht nur vorübergehender Aufenthaltswechsel war, ist nicht festgestellt.

13 (2) Die Nichtanzeige eines nicht nur vorübergehenden Aufenthaltswechsels kann nach § 2 Abs. 14 Nr. 1 AufenthG aF ("trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht") ein konkreter Anhaltspunkt für erhebliche Fluchtgefahr im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO nur sein, wenn der Betroffene zuvor darauf hingewiesen worden ist, dass ein Verstoß gegen die ausländerrechtliche Melde- und Anzeigepflicht auch die Anordnung von Abschiebungs- oder Überstellungshaft zur Folge haben kann. Ein solcher Hinweis muss in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dem früheren Haftgrund für Abschiebungshaft nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG aF (BGH, Beschluss vom 14. Januar 2016 V ZB 178/14, FGPrax 2016, 87 Rn. 8) in einer Sprache abgefasst sein, die der Betroffene beherrscht. Das ist nicht festgestellt.

14 (a) Der erforderliche Hinweis erfolgte nach Ansicht der beteiligten Behörde in dem Formular, das der Betroffene bei Erteilung der Duldung vom 13. Oktober 2016 unterzeichnet hat. Sowohl die Verfügung über die Erteilung der Duldung als auch dieses Formular genügen schon inhaltlich nicht den Anforderungen. Die Verpflichtung zur Anzeige eines Aufenthaltswechsels wird weder in der Verfügung selbst noch in dem Belehrungsformular erwähnt. Die Verfügung ist im Gegenteil sogar irreführend. In der Verfügung wird nämlich ausdrücklich festgehalten, dass ein vorübergehender Aufenthalt im Bundesgebiet auch ohne besondere Erlaubnis gestattet sei. Ein entsprechender Vermerk hat sich auch auf Duldungsausweisen befunden, die dem Betroffenen für die früheren Duldungen erteilt wurden. Aus diesen beiden Unterlagen wird jedenfalls nicht klar, dass ein Aufenthaltswechsel die Anordnung von Haft zur Sicherung einer Abschiebung oder Überstellung zur Folge haben kann. Dass dem Betroffenen bei anderer Gelegenheit ein inhaltlich ausreichender Hinweis erteilt worden ist, hat die beteiligte Behörde nicht vorgetragen und haben die Haftgerichte nicht festgestellt.

15 (b) Unzutreffend ist auch die Annahme der beteiligten Behörde, es habe keiner Übersetzung bedurft, weil der Betroffene Deutsch beherrsche. Sie bezieht sich dazu auf ein Schreiben des Ausländeramts an das Sozialamt der beteiligten Behörde vom 16. August 2016, in welchem von Seiten des Ausländeramtes festgehalten wird, dass der Betroffene so viel Deutsch versteht, dass ihm die Maßnahme erläutert werden kann. Daraus ergibt sich aber nicht, dass der Betroffene die deutsche Sprache "beherrscht". Das entspricht auch der Beurteilung der beteiligten Behörde selbst. Diese hat nämlich ihren Haftantrag mit der Feststellung eingeleitet, die Hinzuziehung eines Dolmetschers für die französische Sprache sei erforderlich. Deshalb hat die Haftrichterin auch einen Dolmetscher für die französische Sprache zu der persönlichen Anhörung des Betroffenen hinzugezogen. [...]