VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 10.11.2020 - 5 K 1889/15.A - asyl.net: M29067
https://www.asyl.net/rsdb/m29067
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung für Angehörigen des Minderheitenclans Gabooye:

"Zur Behandlung von "Mischehen" im somalischen Clanwesen. Zur Lage der Gaboye bzw. Madhiban in Somalia."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Somalia, Mischehe, Clan, Gabooye, Madhiban, Corona-Virus, Gruppenverfolgung, Minderheitenclan,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

29 Die somalische Gesellschaft ist in Clans untergliedert, die sich wiederum in weitere Sub-Clans unterteilen. Somalische Bürger können sich fast ausnahmslos im Clansystem verorten. Dazu werden unter anderem die Vorfahren, der Dialekt und die regionale Herkunft herangezogen. Eine grobe Einordnung ist die zwischen den "noblen" Mehrheitsclans und den "Minderheiten-Clans", die aufgrund ihrer geringen Anzahl an Zugehörigen schwächer sind. Zu den Minderheiten zählen etwa Menschen nichtsomalischer Abstammung, Angehörige unreiner Berufe und "nobler Clans", die allerdings nicht auf ihrem Territorium ansässig sind (Schweizerische Eidgenossenschaft, Focus Somalia Clans und Minderheiten, 31. Mai 2017 (Im Folgenden: SEM 2017), S. 5, 10f.).

30 Die Berufskaste der Gaboye zeichnet sich durch die Ausübung von Berufen aus, die in Somalia traditionell als "unrein" gelten. Dazu zählen Schmiede, Schuhmacher, Töpfer, Jäger und Sammler, Giftmacher und Friseure sowie Hebammen und Beschneider. Eine alternative Bezeichnung ist Madhiban. Von Angehörigen eines Mehrheitsclans wird auch der abwertende Begriff Midgan verwendet. Sie gehören zu den Sab, traditionell Leibeigene der viehzüchtenden Mehrheitsclans. Als solche sind sie nicht Teil des Clansystems in Somalia, sondern eine Minderheitengruppierung. Untergruppierungen sind die Tumal, Midgan und Yibir sowie die Howleh, Hawraar Same und Habar Yaquup, wobei die Einteilungen teilweise voneinander abweichen. Ein Großteil der Gaboye lebt im Gebiet von Somaliland und Puntland. Ihre Anzahl in Hargeisa wird von Vertretern von Minderheitenorganisationen auf 20.000 bis 60.000 Menschen geschätzt. Angehörige der Minderheit leben auch in Mogadischu und im Süden Somalias. Schätzungen ihrer landesweiten Anzahl variieren stark (SEM 2017, S. 14ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Somalia: Die Minderheitengruppe der Gabooye/Midgan, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 5. Juli 2018, (Im Folgenden: SFH 2018), S. 3f.; ACCORD, Clans in Somalia, Dezember 2009, S. 15, Norwegen, Landinfo, Somalia: Low status groups, 2016 (im Folgenden: Landinfo 2016), S. 1ff., 6).

Sie praktizieren das Aufzählen der Väter (im Gegensatz zu den Mehrheitsclans aber nicht bis zu den "noblen" Vorvätern Samaal oder Sab, vgl. Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Somalia, Stand: 20.11.2019 (Im Folgenden: BFA 2019), S. 85; SEM 2017, S. 21) und die Zugehörigkeit zu einem "Clan" hat für sie eine ebenso große Bedeutung wie bei den Angehörigen von Mehrheitsclans (SEM 2017, S. 15f., 20f.).

Da die Gaboye als unrein gelten, werden Angehörige der Berufskasten seit dem frühen 20. Jahrhundert einer Segregation unterworfen, obwohl sie weitgehend die gleiche physische Erscheinung und Gebräuche haben und dieselbe Sprache sprechen wie die Angehörigen der Mehrheitsclans. Angehörigen der Mehrheitsclans ist es traditionell verboten, einen Gaboye zu heiraten, wenn sie nicht selbst von ihrem Clan ausgestoßen werden wollen. Üblicherweise weigern sich Somalier von einem Mehrheitsclan gemeinsam mit einem Gaboye zu essen. Da sie meist keinen Grundbesitz haben, sind Gaboye häufig ökonomisch marginalisiert. Die wenigen gut gebildeten Gaboye können sich ihr Berufsfeld aussuchen, während die meisten körperliche Arbeit und Servicejobs verrichten. Nach dem Verlust der Monopolstellung für die "unreinen" Berufstätigkeiten infolge der Globalisierung sind viele ihrer klassischen Berufe seltener geworden. Mit dem Verschwinden ihrer traditionellen Lebensweise sind viele in städtische Gebiete oder Lager für Binnenvertriebene gezogen (United Kingdom, Home Office, Country Policy and Information, Somalia: Majority Clans and minority groups in south and central Somalia, Januar 2019 (Im Folgenden: UK 2019), S. 25 f.; SFH 2018, S. 5, Landinfo 2016, S. 4, 6f.). Angehörige der Minderheiten haben aufgrund ihrer meist schlechteren Bildung auf dem Arbeitsmarkt einen Wettbewerbsnachteil. Zudem wird bei Anstellungen noch häufig nach der Clanzugehörigkeit gefragt. In der Folge sind sie weiterhin die ärmste Bevölkerungsschicht und werden auf viele Weise diskriminiert und ausgeschlossen. Aufgrund der kleinen Diaspora profitieren Angehörige der Berufskasten in Somalia zudem nur in geringerem Ausmaß von Rücküberweisungen aus dem Ausland (SEM 2017, S. 47f., Landinfo 2016, S. 5, 7; United States, Department of State, Country Report on Human Rights Practices - Somalia (Im Folgenden: USDOS 2018); Deutschland, Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, Stand Januar 2020 (Im Folgenden: AA 2020), S. 12f.).

31 Seit der Jahrtausendwende sind in Somalia zwar generell Verbesserungen der Behandlung der Minderheiten zu verzeichnen. So können sie mittlerweile die Schule besuchen. Dennoch werden gerade die Berufskasten weiterhin diskriminiert. Sie haben aber nicht mehr den Status als Leibeigen, stattdessen wird ihr Status mit den von "Unberührbaren" verglichen (SEM 2017, S. 38, 40). In Somaliland hat die Anerkennung von Clan-Ältesten der Gaboye zu einer Aufwertung berufsständiger Gruppen geführt. Dies geht auch mit einer gewissen sozialen Sicherheit einher. Die Gaboye haben demnach auch im traditionellen Rechtssystem des Xeer ihre Rechte. Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten nicht systematisch. Andererseits geht die Polizei Vergehen gegen Angehörige der Minderheiten häufig nicht nach (SEM 2017, S. 40f.; USDOS 2018). Gesellschaftlich vollzieht sich mittlerweile ein Sinneswandel. Insbesondere in der jüngeren Generation ist es für Angehörige von Mehrheitsclans üblich, mit Angehörigen der Minderheiten zu essen, zu arbeiten und Freundschaften zu unterhalten. Nach Einschätzung einer westlichen Botschaft kommt es im Allgemeinen zu keinen gezielten Angriffen oder Misshandlungen der Gaboye (SEM 2017, S. 42 f.). Dies wird durch die Angaben von zwei Mitarbeitern von Interessenvertretern der Minderheiten in Hargeisa bestätigt, denen zufolge das Risiko einer Vergewaltigung für eine Gaboye-Frau nicht höher sei als für eine Mehrheits-Frau. Zudem könnten auch Gaboye zu Tätern werden. In den sich üblicherweise anschließenden traditionellen Konfliktlösungen würden die Gaboye als gleichberechtigt betrachtet (Landinfo 2016, S. 8). Andererseits werden Vergewaltigungen nach Angaben von somalischen Nichtregierungsorganisationen häufig nicht verfolgt, insbesondere wenn die Opfer Binnenvertriebene oder Angehörige von Minderheiten sind (USDOS 2018). Gemäß einem Bericht einer Fact-Finding-Mission des Danish Immigration Service (DIS) und Landinfo im Jahr 2013 gehören die Gaboye zu den am meisten marginalisierten und gefährdeten Gruppen in Mogadischu. Generell haben Minderheitengruppen oft keinen bewaffneten Arm und sind deshalb besonders häufig von Gewalt, bis hin zu Tötungen betroffen (SFH 2018, S. 4; USDOS 2018).

32 Dem Kläger droht folglich von staatlicher oder privater Seite keine Gruppenverfolgung (vgl. zur Gefahr der Gruppenverfolgung: BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243-254 = juris, Rn. 20ff.). Gaboye sind zwar im somalischen Clansystem schlechter geschützt. Sie werden aber nicht allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit angegriffen. Somit besteht für den Kläger nicht ohne weiteres die Gefahr eigener Betroffenheit.

33 Hinsichtlich der Folgen einer Mischehe gibt es unterschiedliche Einschätzungen der Lage. Zusammengefasst sind Mischehen zwar gesellschaftlich tabuisiert und kommen nur selten vor. Gewaltanwendungen im Zusammenhang mit Mischehen sind allerdings die Ausnahme.

34 Der Minority Rights Group International zufolge verbiete und bestrafe die Clanstruktur in Somalia Mischehen. Sie berichtet im Jahr 2010 von zwei Fällen von Mischehen, die nach Druck aus der Familie mit unfreiwilligen Scheidungen endeten. In einem der beiden Fälle sei es zu Gewaltanwendungen gegenüber der Minderheiten-Frau durch die Familienangehörigen des Mehrheitsclans gekommen. Die Frau sei ins Krankenhaus eingewiesen worden (SFH 2018, S. 5).

35 Auf einer Fact-Finding Mission des schweizerischen Staatssekretariats für Migration (SEM) und des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Jahr 2017 berichteten die befragten Experten und Betroffenen aus dem somalischen Kulturraum hingegen übereinstimmend, dass Mischehen mit Minderheiten zwar meist nicht akzeptiert würden, Gewaltanwendungen jedoch die Ausnahme seien. Die Ehe eines Minderheiten-Manns mit einer Mehrheits-Frau sei besonders problematisch. In der Folge seien solche Ehen sehr selten (so auch Landinfo 2016, S. 5 auf der Basis von Gesprächen mit Repräsentanten der Gaboye und Mitarbeitern internationaler Organisationen). Im Norden des Landes sei die "Reinheit" des Clans noch wichtiger als im ethnisch stark durchmischten Süden, weshalb die Stigmatisierung von Mischehen im Norden stärker sei. Grundsätzlich müssten die Familien aber jeder Hochzeit zustimmen. Täten sie dies nicht, würden dies die Betroffenen meist akzeptieren und die Hochzeit käme nicht zu Stande. Es gebe nach der Ansicht moderater Kleriker jedoch die Möglichkeit, drei Tagesreisen per Kamel von Wohnort entfernt auch ohne Einverständnis der Familie zu heiraten (sog. gubdo sireed, vgl. dazu auch Finnland, Finnish Immigration Service, Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, Januar 2018 (im Folgenden: FIS 2018), S. 26f.). Nach der Rückkehr des Paares akzeptierten die Familien die Heirat dann meist. Bei Mischehen komme es hingegen häufig vor, dass die Familienangehörigen auf der Seite des Mehrheitsclans die betroffene Person verstoßen. Es komme dann zu Gewaltandrohungen, aber so gut wie nie zu Gewaltanwendungen oder gar Tötungen. Die Gesprächspartner nannten im Zeitraum von 2012 bis 2017 übereinstimmend drei Vorfälle von Gewaltanwendungen nach einer Mischehe. Diese seien auch in der Presse dokumentiert worden (SEM 2017, S. 7 u. 45f.).

36 In Gesprächen einer norwegischen Fact-Finding Mission mit einem Repräsentanten der Gaboye im Jahr 2016 wird über einen Fall berichtet, in dem die Mehrheitsfrau nach der Heirat mit einem Gaboye von ihrer Familie verstoßen worden sei. In einem anderen Fall sei der Gaboye-Mann von der Familie seiner Frau körperlich angegriffen und angeschossen worden. Die meisten Angreifer und der Mann seien festgenommen worden. Die Ehe sei aufgelöst worden. In einem anderen Gespräch mit Mitarbeitern einer Hilfsorganisation für Minderheiten- Frauen wird über eine Mischehe im Jahr 2011 berichtet, bei der der Gaboye-Mann nach der Eheschließung festgenommen worden sei. Das Gericht habe zugunsten des Ehepaars entschieden. Dennoch sei die Frau gegen ihren Willen in das Gebiet ihres Clans gebracht und neu verheiratet worden (Landinfo 2016, S. 5).

37 Bei einer Fact-Finding Mission des finnischen Immigration Service (Migri) in Mogadischu und Nairobi im Januar 2018 wurden Aussagen von Mitarbeitern zweier internationaler Hilfsorganisationen festgehalten. Ihren Angaben zufolge soll zumindest in Mogadischu eine Mischehe mit einem Minderheiten-Mann möglich sein. Grund dafür sei die heterogene Clanverteilung in Mogadischu. Dorthin würden Paare fliehen, die gegen den Willen ihrer Familien geheiratet hätten. Mischehen wären eine Zeit lang ein Gesprächsthema, würden aber früher oder später akzeptiert (FIS 2018, S. 26). Im September 2018 wurde jedoch ein Angehöriger der ethnischen Minderheit der Bantu in Mogadischu in Zusammenhang mit einer Mischehe getötet. Dies war jedoch ein außergewöhnlicher Vorfall, über welchen viele Somalier ihre Entrüstung ausdrückten (BFA 2019, S. 84).

38 Somit ist es zwar unwahrscheinlich, aber auch nicht völlig auszuschließen, dass es wegen einer Mischehe zu Gewaltanwendungen kommen kann (so auch: VG Köln, Urteil vom 9. Mai 2019, 8 K 1744/17.A, juris, Rn. 54; VG Bremen, Urteil vom 11. Januar 2019, 2 K 3506/16, juris, Rn. 40). [...]