VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 05.11.2020 - 8 K 15409/17 - asyl.net: M29081
https://www.asyl.net/rsdb/m29081
Leitsatz:

Ordnungsgemäße Beschäftigung liegt nicht vor, wenn sie nicht erlaubt war:

"1. Eine einheitlich ausgeübte, unselbständige Erwerbstätigkeit eines türkischen Arbeitnehmers kann nicht aufgespalten werden in eine (im Rahmen einer zu Studienzwecken erteilten Aufenthaltserlaubnis) erlaubte Erwerbstätigkeit und eine (erlaubnisfreie) familiäre Mithilfe (hier: Betrieb eines "Büdchens" als Familien­betrieb).

2. Die nachmittägliche, fast tägliche Mitarbeit in einem Familienbetrieb ist deshalb nicht ordnungsgemäß im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80; sie liegt außerhalb des erlaubten Rahmens von 240 halben bzw. 120 ganzen Tagen.

3. Zeiten einer Verlängerungsfiktion führen jedenfalls dann nicht zu einer ordnungsgemäßen Beschäftigung, wenn die Ausländerbehörde den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bestandskräftig abgelehnt hat.

4. Es spricht Vieles dafür, dass eine Aufenthaltserlaubnis, obwohl sie durch Täuschung der Ausländerbehörde erlangt wurde, Grundlage einer ordnungsgemäßen Beschäftigung sein kann, wenn die Aufenthaltserlaubnis nicht zurückgenommen wurde und die Täuschungshandlung nicht zu einer Verurteilung geführt hat (wie EuGH, Urteil vom 5. Juni 1997 - C-285/95 (Kol) -; entgegen BVerwG, Urteil vom 29. Mai 2018 - 1 C 17.17 -)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Türkischer Arbeitnehmer, Aufenthaltserlaubnis, Studium, Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken, Erwerbstätigkeit, ordnungsgemäße Beschäftigung, vorsätzliche Täuschung, Täuschung,
Normen: ARB 1/80 Art. 6, AufenthG § 16b,
Auszüge:

[...]

Die ordnungsgemäße Beschäftigung setzt zunächst den Status als Arbeitnehmer voraus. Der im Assoziationsrecht verwendete Begriff des Arbeitnehmers ist ebenso zu verstehen wie der gemeinschaftsrechtliche; die europarechtliche Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs ist deshalb für die Arbeitnehmer im Sinne des Art. 6 ARB 1/80 heranzuziehen (EuGH, Urteile vom 30. September 1997 - C-98/96 (Ertanir) -, Rn. 43, vom 30. September 1997- C-36/96 (Günaydin) -, Rn. 29, vom 26. November 1998 - C-1/97 (Birden) -, Rn. 24,und vom 19. November 2002 C-188/00 (Kurz) -, Rn. 31, jeweils unter: curia.eu).

Arbeitnehmer ist mithin derjenige, der in einem Arbeitsverhältnis steht, aufgrund dessen er für eine andere Person, nach deren Weisung, eine tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. [...]

Dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der ordnungsgemäßen Beschäftigung (EuGH, Urteil vom 6. Juni 1995 C-434/93 (Bozkurt) -, unter: curia.eu (Rn. 27)), verlangt eine Prüfung anhand der Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaates, welche die Voraussetzungen regeln, unter denen der türkische Staatsangehörige in das nationale Hoheitsgebiet gelangt ist und sich dort zum Zwecke der Beschäftigung aufhält. Maßgeblich sind also die erteilten Aufenthaltserlaubnisse zu Grunde zu legen, mit denen dem Kläger eine (unselbständige) Erwerbstätigkeit gestattet war.

Dem Kläger war es mit Beginn seines Arbeitnehmerstatus am ... Januar 2015 nicht möglich, ein Jahr als Arbeitnehmer ordnungsgemäß beschäftigt zu sein.

Für die einzelnen in Betracht zu nehmenden Zeitabschnitte gilt folgendes: Die dem Kläger zuletzt am ... Oktober 2015 verlängerte Aufenthaltserlaubnis war nur bis zum ... Mai 2016 gültig. Sie enthielt die eindeutige und klare Nebenbestimmung, dass die Ausübung einer Beschäftigung, die insgesamt 120 Tage oder 240 halbe Tage im Jahr nicht überschreiten darf, sowie studentische Nebentätigkeiten gestattet sind.

Damit war zunächst der Aufenthalt des Klägers ab dem ... Mai 2016 trotz des rechtzeitig gestellten Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und der nach § 81 Abs. 4 AufenthG eingetretenen Fiktion nicht mehr ordnungsgemäß im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Die Ordnungsmäßigkeit der Beschäftigung setzt eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats und damit das Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechts voraus. Beschäftigungszeiten können daher so lange nicht als ordnungsgemäß im Sinne von Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 angesehen werden, wie nicht endgültig feststeht, dass dem Betroffenen während des fraglichen Zeitraums das Aufenthaltsrecht von Rechts wegen zustand (EuGH, Urteil vom 20. September 1990 - C-192/89 (Sevince) -, Rn. 30, vom 16. Dezember 1992- C-237/91 (Kus) -, Rn. 12, vom 5. Juni 1997 - C-285/95 (Kol) -, Rn.21, und vom 6. Juni 1995- C 434/93 (Bozkurt) - Rn. 27, jeweils unter curia.eu; BVerwG, Urteil vom 19. April 2012 - 1 C 10.11 -, unter: bverwg.de (Rn. 22)). [...]

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war der Kläger in dem Büdchen seiner Mutter jeden Tag beschäftigt, zunächst beginnend mit dem Schluss der Sprachschule gegen 14 - 15 Uhr. Diese Tätigkeit wurde jeden Tag ausgeübt, auch am Wochenende. Damit liegt diese Tätigkeit sowohl über dem Rahmen von erlaubten 240 halben Tagen als auch über der Tätigkeit von 120 ganzen Tagen, da sie deutlich länger als vier Stunden täglich und fast 365 Tage im Jahr ausgeübt wurde. Dem steht nicht entgegen, dass - wie der Kläger meint - die Zeit, die über die erlaubte Beschäftigung hinausgeht, im Rahmen der Familienhilfe erfolgt sei, letztlich also über die vertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit hinaus und damit unentgeltlich. Eine solche Aufspaltung in eine Tätigkeit als Arbeitnehmer und eine solche Aushilfstätigkeit im Rahmen der Familienhilfe ist bei einer nach außen erscheinenden und damit objektiv einheitlichen Tätigkeit unstatthaft. Der Gerichtshof der Europäischen Union betont stets, dass der auch der ordnungsgemäßen Beschäftigung zugrundeliegende Begriff des Arbeitnehmers nicht eng (dem folgend: BVerwG, Urteil vom 19. April 2012 - 1 C 10.11 -, unter: bverg.de (Rn. 15)) und nach objektiven Kriterien zu definieren ist. Entscheidend ist der Charakter des Arbeitsverhältnisses in Ansehung der Rechte und Pflichten der betreffenden Personen (EuGH, Urteile vom 26. November 1998 - C-1/97 (Birden) -, Rn. 25, vom 19. November 2002 - C 188/00 (Kurz) -, Rn. 32, und vom 6. November 2003 - C-413/01 (Ninni-Orasche) -, Rn. 24, jeweils unter: curia.eu).

Nach diesem objektiven Maßstab liegt eine einheitliche Tätigkeit des Klägers vor. Es geht um alle typischerweise in einem Büdchen anfallenden Tätigkeiten, vom Einkauf, das Nachfüllen der Regale bis zum Verkauf einschließlich des Kassenabschlusses. Sämtliche Tätigkeit nahm der Kläger gemeinsam mit seiner Mutter einheitlich wahr; eine Aufteilung in eine weisungsgebundene, bezahlte Beschäftigung und eine freiwillige Mithilfe im Rahmen des Familienbetriebs wird der tatsächlichen Situation nicht gerecht. [...]