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VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 04.11.2020 - 1 K 2163/18.A - asyl.net: M29087
https://www.asyl.net/rsdb/m29087
Leitsatz:

Kein subsidiärer Schutz und kein Abschiebungsverbot für Mann aus Galguduud in Zentralsomalia:

1. Die Gefahr eines ernsthaften Schadens für unbeteiligte Zivilpersonen, infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen des in Somalia herrschenden Konflikts zu werden, ist in der Region Galguduud in Zentralsomalia nicht so hoch, dass die Schwelle von § 4 AsylG überschritten ist.

2. Kein Abschiebungsverbot aufgrund der humanitären Lage, für eine Person, die jung, gesund und arbeitsfähig ist und nahe Verwandte in Somalia hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Zentralsomalia, Galguduud, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, subsidiärer Schutz, Gefahrendichte, Abschiebungsverbot, humanitäre Lage,
Normen: AsylG § 4, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

(3) Der Godinlabe und Umgebung und die Region Galguduud kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt erreicht bei weitem kein so hohes Niveau, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei ihrer Rückkehr dorthin allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, getötet oder verletzt zu werden.

Zwar lässt sich die Zahl der Zivilpersonen, die in Godinlabe und Umgebung und der Region Galguduud Opfer willkürlicher Gewalt werden, mangels belastbarer Erhebungen nicht verlässlich einschätzen. Das Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation weist in seinen Kurzübersichten über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project darauf hin, dass es aufgrund der Erhebungsmethode (Auswertung öffentlich zugänglicher Sekundärquellen) zu einer Nichterfassung von Vorfällen und insbesondere von Opfern kommen kann. Hinzu kommt, dass diese Kurzübersichten nur Todesopfer, nicht aber auch Verletzte erfassen. Andererseits unterscheiden die auf den ACLED-Erhebungen basierenden Kurzübersichten auch nicht zwischen zivilen und militärischen Todesopfern (vgl. ACLED, Frequently Asked Questions, www.acleddata.com/frequently-asked-questions/ (abgerufen am 7. September 2016)). [...]

(a) Ausgehend von den vorstehend unter (2) dargelegten Daten ergibt sich für die Region Galguduud für 2015 ein Tötungsrisiko von etwa 1:2.500, für 2016 von etwa 1:1.750, für 2017 von etwa 1:3.450, für 2018 von etwa 1:4.900, für 2019 von etwa 1:16.000 und für das erste Halbjahr 2020 von 1:5.400; diese Werte liegen sämtlich unter 1 ‰, die Werte für 2018 bis 2020 weit unter 1 ‰. Dabei hat das Gericht die Einwohnerzahl  der Region Galguduud basierend auf der vorstehend zitierten Erhebung des United Nations Population Fund (UNFPA) mit 540.000 angesetzt. Dieser Wert liegt mit einem Sicherheitsabschlag von etwa 5 % auf der sicheren Seite, zumal er das allgemeine Bevölkerungswachstum in Somalia von jährlich etwa 2,8 % (vgl. UNFPA, Population Estimation Survey 2014 for the 18 Pre-War Regions of Somalia, Oktober 2014, S. 44) ebenfalls nicht berücksichtigt. Für 2020 wurden die Opferzahlen für die ersten beiden Quartale auf ein Jahr hochgerechnet. Selbst unter der Annahme, dass auf einen registrierten Toten zehn weitere Tote oder Verletzte kommen, ergäbe sich für 2015 ein Tötungs- und Verletzungsrisiko von etwa 1:230, für 2016 von etwa 1:160, für 2017 von etwa 1:310, für 2018 von etwa 1:450, für 2019 von etwa 1:1.500 und für 2020 von etwa 1:490; diese Werte liegen sämtlich unter 1 %. Dabei ist zu beachten, dass diese Zahlen zivile und militärische Opfer erfassen, was zu einer Überhöhung des Todes- und Verletzungsrisikos für Zivilisten führt.

Zwischen Januar und Oktober 2018 sollen in ganz Somalia 1.117 Zivilisten getötet oder verletzt worden sein (vgl. United States Department of State (USDOS), Somalia 2019 Human Rights Report, 11. März 2020, S. 11).

Im Zeitraum vom 5. Mai bis zum 4. August 2019 sollen für ganz Somalia 322 zivile Opfer zu verzeichnen gewesen sein (vgl. United Nations Security Council (UNSC), Report of the Secretary-General on Somalia, 15. August 2019, S. 9); im Zeitraum vom 5. August bis zum 4. November 2019 wurden 124 zivile Opfer (vgl. UNSC, Report of the Secretary-General on Somalia, 15. November 2019, S. 8), im Zeitraum vom 5. November 2019 bis zum 4. Februar 2020 392 zivile Todesopfer (vgl. UNSC, Situation in Somalia - Report of the Secretary-General, 13. Februar 2020, S. 8), im Zeitraum vom 5. Februar bis zum 4. Mai 2020 170 zivile Todesopfer und 120 verletzte Zivilisten und im Zeitraum vom 5. Mai bis zum 4. August 2020 138 zivile Todesopfer und 181 verletzte Zivilisten (vgl. UNSC, Situation in Somalia - Report of the Secretary-General, 13. August 2020, S. 8) registriert. Im Vergleich zu den ACLED-Daten zeigen diese Zahlen, dass es sich bei den registrierten Todesopfern überwiegend nicht um Zivilisten handelt.

Bereits diese Überlegungen legen nahe, dass keine stichhaltigen Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Godinlabe und Umgebung Gefahr liefe, allein durch seine dortige Anwesenheit verletzt oder getötet zu werden. Dieses Zwischenergebnis wird durch die Gesamtbewertung der aktuellen Situation in Godinlabe und Umgebung und der Region Galguduud bestätigt: [...]

(ee) Trotz der vorstehend beschriebenen Umstände besteht in Somalia nach der gegenwärtigen Erkenntnislage keine derart prekäre humanitäre Situation, insbesondere keine derart unzureichende Versorgungslage, dass eine Rückführung dorthin, insbesondere nach Godinlabe und Umgebung in der Region Galguduud, in Anwendung des Art. 3 EMRK generell ausgeschlossen wäre. Vielmehr sind in jedem Einzelfall die persönlichen Umstände der betroffenen Person zu prüfen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Juli 2019 - A 9 S 1566/18 -, juris Rn. 44 ff. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte so-wie der obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland).

Bei Anlegung dieses Maßstabs verstößt eine Rückkehr des Klägers nach ... und Umgebung nicht gegen das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger dort in der Lage sein wird, für seine Grundbedürfnisse zu sorgen. Dabei berücksichtigt das Gericht, dass der Kläger in ... aufgewachsen ist und mit den dortigen Verhältnissen vertraut ist. Zudem ist er jung, gesund und arbeitsfähig. Vor allem kann der Kläger in ... und Umgebung auf die Hilfe seiner Verwandten zurückgreifen. In ... lebt den Angaben des Klägers zufolge seine Großmutter, die ihn aufgezogen hat. Zudem verfügt er in ... und Umgebung über weitere Verwandte, die dort als Nomaden umherziehen und die auch seine Großmutter unterstützen. Anhaltspunkte dafür, dass seine Verwandten ihm entgegen der landesüblichen Gepflogenheiten ihre Hilfe verweigern, sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Der Umstand, dass er seine nomadisch lebenden Verwandten seinen Angaben zufolge kaum kennt, steht dieser Annahme nicht entgegen, zumal seine Großmutter, die ihn aufgezogen hat, sich für ihn einsetzen wird.

Hinzu kommt, dass der Kläger durch eine freiwillige Rückkehr nach Somalia über das Government Assisted Repatriation Programme (GARP) eine Starthilfe von 1.000,- € erlangen kann (vgl. Bundesamt, Freiwillige Rückkehr mit REAG/GARP (Stand: Januar 2020) abrufbar unter files.returningfromgermany. de/files/200213_REAG_GARP_deutsch.pdf (abgerufen am 20. April 2020)), die ihm seinen Lebensunterhalt zumindest für eine Übergangszeit sichert, bis er Kontakt zu seiner Familie aufnehmen kann. Zudem kann er von diesem Geld Tiere zur Vergrößerung der von seinen Verwandten gehaltenen Tierherden erwerben. [...]

Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist realistischerweise davon auszugehen, dass der Kläger allein nach Somalia zurückkehren wird. Der Kläger lebt derzeit seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge mit keiner der beiden Frauen, mit denen er Kinder hat, in einer Paarbeziehung zusammen. Jedenfalls im Verhältnis des Klägers zu den Müttern seiner Kinder fehlt es somit an einer zwischen Ehepartnern üblichen engen Lebensgemeinschaft. Infolge dessen ist bei einer realitätsnahen Betrachtung davon auszugehen, dass keine dieser beiden Frauen mit ihm zusammen nach Somalia zurückkehren wird und die drei Kleinkinder (das älteste der betroffenen Kinder ist etwas über drei Jahre alt), die schon bisher ganz überwiegend bei ihren Müttern leben, bei ihren Müttern bleiben werden. [...]