VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.11.2020 - 11 S 2637/20 - asyl.net: M29123
https://www.asyl.net/rsdb/m29123
Leitsatz:

Ausweisung wegen unerlaubter Erwerbstätigkeit neben dem Studium:

"Ein Ausweisungsinteresse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG setzt voraus, dass der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt tatsächlich gefährdet (§ 53 Abs. 1 AufenthG).

Inhabern einer Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken (§ 16b Abs. 1 AufenthG/§ 16 Abs. 1 AufenthG a.F.) sind auch nach Inkrafttreten des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes zum 1. März 2020 kraft Gesetzes ausschließlich die in § 16b Abs. 3 Satz 1 AufenthG genannten Erwerbstätigkeiten in beschränktem Umfang erlaubt. Für jede andere Erwerbstätigkeit folgt aus dieser Bestimmung ein grundsätzliches Verbot i.S.d. § 4a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Ihre Ausübung bedarf der behördlichen Erlaubnis im Einzelfall, soweit eine solche gesetzlich vorgesehen ist (§ 4a Abs. 2 Satz 1 AufenthG).

Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit, die eine aufenthaltsrechtliche Beschränkung wie diejenige aus § 16b Abs. 3 Satz 1 AufenthG überschreitet, verstößt gegen Rechtsvorschriften i.S..d. des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG.

Es kann allerdings ein atypischer Fall vorliegen, der dazu führt, dass bei der Entscheidung über die Erteilung eines Aufenthaltstitels von der Regelvoraussetzung des Nichtvorliegens eines Ausweisungsinteresses gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen ist, wenn die Ausländerbehörde diese Erwerbstätigkeit nicht erlaubt hat, obwohl sie erlaubnisfähig war und für eine Ablehnung der Erlaubnis keine tragfähigen Gesichtspunkte vorlagen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken, Erwerbstätigkeit, selbständige Erwerbstätigkeit, unerlaubte Erwerbstätigkeit, Ausweisungsintereresse, Corona-Virus, atypischer Ausnahmefall,
Normen: AufenthG § 16b, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 53 Abs. 1, AufenthG § 16b Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

Zweck des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist die Vermeidung von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG, die durch den Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet voraussichtlich entstehen. Solche Gefahren sind daher bereits im Vorfeld der Gewährung und der Verfestigung des Aufenthalts bei der Entscheidung über die Erteilung von Aufenthaltstitels zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 28.09.2004 - 1 C 10.03 -, juris Rn. 13). Diesem gefahrenabwehrrechtlichen Zweck entspricht es, Verletzungen aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vorzubeugen.

An der Beachtung der aufenthaltsrechtlichen Beschränkungen der Erwerbstätigkeit besteht grundsätzlich ein erhebliches öffentliches Interesse, weil nur so die vom Aufenthaltsgesetz bezweckte Steuerung, Gestaltung und Begrenzung des Aufenthalts von Ausländern in Deutschland (§ 1 Abs. 1 AufenthG) effektiv verwirklicht werden kann (zur hohen Bedeutung aufenthaltsrechtlicher Steuerungsbestimmungen siehe nur BVerwG, Urteile vom 25.05.2020 - 1 C 12.19 -, juris Rn. 50, und vom 12.07.2018 - 1 C 16.17 -, juris Rn. 24, sowie VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 14.01.2020 - 11 S 2956/19 -, juris Rn. 21). Die unerlaubte Ausübung einer Erwerbstätigkeit begründet daher grundsätzlich einen Rechtsverstoß von erheblichem Gewicht.

Das der Rechtsverletzung zukommende Gewicht kann aber hinter die schützenswerten Belange des Ausländers zurücktreten, wenn sie maßgeblich durch ein Verhalten der Ausländerbehörde mitverursacht worden ist (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 10.09.2001 - 11 S 2212/00 -, juris Rn. 5; OVG Schl.-Holst., Beschluss vom 18.03.2010 - 8 ME 24/10 -, juris Rn. 12). Das kann insbesondere der Fall sein, wenn die Ausländerbehörde die Ausübung der Erwerbstätigkeit hätte erlauben können und die Versagung der Erlaubnis aufgrund der individuellen Umstände grob unbillig war. Liegt ein erheblich pflichtwidriger Beitrag der Ausländerbehörde zur Rechtsverletzung durch den Ausländer vor, lässt er nicht nur das ordnungsrechtliche Gewicht der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung entfallen. Weil in diesem Fall der gefahrenabwehrrechtliche Zweck des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG die privaten Interessen des Ausländers nicht mehr zu überwiegen vermag, wäre die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels allein aus generalpräventiven Gründen auch unverhältnismäßig.

Es kann daher ein atypischer Fall vorliegen, der dazu führt, dass bei der Entscheidung über die Erteilung eines Aufenthaltstitels von der Regelvoraussetzung des Nichtvorliegens eines Ausweisungsinteresses gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen ist, wenn die Ausländerbehörde diese Erwerbstätigkeit nicht erlaubt hat, obwohl sie erlaubnisfähig war und für eine Ablehnung der Erlaubnis keine tragfähigen Gesichtspunkte vorlagen. [...]