VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 01.12.2020 - 1 K 4736/18.A - asyl.net: M29207
https://www.asyl.net/rsdb/m29207
Leitsatz:

Abschiebungsverbot wegen der humanitären Lage in Somalia: 

Abschiebungsverbot für einen jungen Mann, der Somalia im Alter von 15 Jahren verlassen und seitdem in Europa gelebt hat, da dieser ohne die Hilfe eines familiären Netzwerkes keine Existenzgrundlage finden würde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Existenzgrundlage, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

Ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG steht dem Kläger, der seinen glaubhaften Angaben zufolge in Somalia über keine Verwandten mehr verfügt, jedenfalls aufgrund der dortigen humanitären Situation zu. Diese Situation stellt sich wie folgt dar:

aa) Das Bruttosozialprodukt Somalias und der dortige Lebensstandard gehören zu den niedrigsten weltweit. Bis zu 80 % der Bevölkerung leben in Armut (vgl. DIS, South Central Somalia: Report from the Danish Immigration Service's Fact Finding Mission to Nairobi, Kenya and Mogadishu, Somalia, September 2015, S. 20; IOM, Labour Market and Service Skills Assessment in Selected Locations - Somalia Report, Januar 2019, S. 18; BFA, Länderinformationsblatt Somalia, 19. September 2019, S. 122; BS, BTI 2020 Country Report - Somalia, 2020, S. 22).

Die Grundversorgung der Bevölkerung mit trinkbarem Wasser und Nahrungsmitteln ist nicht zuletzt aufgrund mehrerer Dürreperioden nicht ausreichend gewährleistet. Über die Hälfte der Bevölkerung Somalias (einschließlich Somaliland und Puntland) sind von Nahrungsmittelknappheit, Kindersterblichkeit und Unterernährung bedroht. Etwa die Hälfte der Bevölkerung ist auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, rund 1.500.000 Kinder sind akut unterernährt; davon etwa 180.000 schwer. Auch während der letzten Dürreperiode gab es Hungertote; eine flächendeckende Hungersnot konnte aber abgewendet werden. Es gibt keinen sozialen Wohnraum oder Sozialhilfe. Hilfsprojekte der Vereinten Nationen oder nichtstaatlicher Hilfsorganisationen erreichen in der Regel nicht die gesamte Bevölkerung. Sowohl staatliche Kräfte als auch al-Shabaab und andere Konfliktbeteiligte konfiszieren einen Teil der Hilfslieferungen für eigene Zwecke (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Juli 2019 - A 9 S 1566/18 -, juris Rn. 38 ff.; UNHCR, Position on Returns to Southern and Central Somalia (Update I), Mai 2016, S. 2 und 7; ai, The State of the World’s Human Rights - Somalia, 22. Februar 2018, S. 3; BFA, Länderinformationsblatt Somalia, 17. September 2019, S. 122 ff.; UNSC, Report of the Secretary-General on Somalia, 15. November 2019, S. 10; BS, BTI 2020 Country Report - Somalia, 2020, S. 22 ff und 29 f.; THI, State of Somalia Report, Januar 2020, S. 15; USDOS, Somalia 2019 Human Rights Report, 11. März 2020, S. 21; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 2. April 2020, S. 21).

bb) Besonders prekär ist die Lage der mehr als 2.500.000 Binnenvertriebenen, die rund 20 % der Gesamtbevölkerung Somalias ausmachen. Allein in den ersten beiden Monaten 2020 wurden in Somalia etwa 70.000 Menschen vertrieben, davon etwa 50.000 aufgrund von Kämpfen und ca. 20.000 aufgrund der Dürre. Etwa 70 bis 80 % der Binnenvertriebenen sind Frauen und Kinder. Die Bedingungen in Siedlungen für Binnenvertriebene sind erbärmlich, zudem sind viele ihrer Bewohner dem Risiko schwerer Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Ihre ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln ist nicht gewährleistet; viele Binnenvertriebene leben nur knapp über der Grenze zur Unterernährung. Vielen Binnenvertriebenen droht zudem die Vertreibung von dem Land, auf dem sie wohnen. 2019 sollen rund 250.000 Personen gegen ihren Willen vertrieben worden sein (vgl. ai, The State of the World’s Human Rights - Somalia, 22. Februar 2018, S. 3; BFA, Länderinformationsblatt Somalia, 17. September 2019, S. 112 ff.; Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC), No land, no water, no pasture - the urbanisation of drought displacement in Somalia, März 2020, S. 8, 12 und 13, und Somalia - Country Information, S. 1, www.internal-displacement.org/countries/somalia (abgerufen am 5. Mai 2020); USDOS, Somalia 2019 Human Rights Report, 11. März 2020, S. 21 f.; UNHCR, Somalia - Internal Displacements Monitored by Protection & Return Monitoring Network, 25. März 2020).

cc) Andererseits unterstützt UNHCR die freiwillige Rückkehr von nach Kenia geflohenen Somaliern. Schätzungen des UNHCR zufolge sind seit 2014 etwa 85.000 Somalier aus Kenia nach Somalia zurückgekehrt. Darüber hinaus sind seit Dezember 2013 etwa 70.000 Personen aus Saudi Arabien nach Somalia abgeschoben worden und sind seit Ausbruch des Bürgerkriegs im Jemen im März 2015 etwa 43.000 Personen von dort nach Somalia zurückgekehrt. Da viele dieser Personen nicht in ihre Heimatgebiete zurückkehren konnten, mussten sie in Siedlungen für Binnenvertriebene unterkommen (vgl. EASO, Süd- und Zentralsomalia: Länderüberblick, August 2014, S. 125 f. und 127 ff.; UNHCR, Position on Returns to Southern and Central Somalia (Update I), Mai 2016, S. 1 und 11; BFA, Länderinformationsblatt Somalia, 17. September 2019, S. 134 ff.; UNHCR, Somalia - Refugee Returns to Somalia at 29 February 2020, 30. März 2020; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 2. April 2020, S. 22 f.).

dd) Unterstützung durch (Groß-) Familie und Clan zählen weiterhin zu den wichtigsten Faktoren für Akzeptanz in der Gemeinschaft, Sicherheit und Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Unterkunft und Nahrung. Dies gilt auch für Rückkehrer. Dabei gilt als allgemeine Regel, dass Somalis auch entfernte Verwandte, die aus einer anderen Gegend kommen unterstützen. Soweit Unterkunft und Nahrung betroffen sind, ist jedoch nicht der Clan, sondern die (Groß-) Familie der erste Ansprechpartner. Allerdings leistet die Großfamilie in der Regel nur für einige Tage Unterstützung und kann nicht als langfristige Lösung für Lebensunterhalt oder Unterkunft angesehen werden. Nur wenn eine Person in einem Gebiet weder über enge Familienangehörige noch über andere Verwandte verfügt, kann der Clan um Hilfe gebeten werden. Allerdings wurde das Konzept der Clansolidarität in Zentral- und Südsomalia angesichts der Dauer des dort herrschenden Konflikts überdehnt. Dementsprechend sehen sich viele Familien- und Clannetzwerke heute nicht mehr in der Lage, vertriebenen Verwandten zu helfen. Ohne familiäre Unterstützung laufen Rückkehrer Gefahr, sich in einem Lager für Binnenvertriebene wiederzufinden. Dies gilt insbesondere für alleinstehende Frauen und zwar unabhängig davon, ob sie Kinder haben oder nicht (vgl. EASO, Süd- und Zentralsomalia: Länderüberblick, August 2014, S. 126; DIS, South Central Somalia: Report from the Danish Immigration Service's Fact Finding Mission to Nairobi, Kenya and Mogadishu, Somalia, September 2015, S. 20; UN-HCR, Position on Returns to Southern and Central Somalia (Update I), Mai 2016, S. 9; BFA, Länderinformationsblatt Somalia, 17. September 2019, S. 128).

ee) Trotz der vorstehend beschriebenen Umstände besteht in Somalia nach der gegenwärtigen Erkenntnislage keine derart prekäre humanitäre Situation, insbesondere keine derart unzureichende Versorgungslage, dass eine Rückführung dorthin in Anwendung des Art. 3 EMRK generell ausgeschlossen wäre. Vielmehr sind in jedem Einzelfall die persönlichen Umstände der betroffenen Person zu prüfen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Juli 2019 - A 9 S 1566/18 -, juris Rn. 44 ff. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie der obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland).

Im vorliegenden Fall führt eine Prüfung der individuellen Verhältnisse des Klägers zu dem Ergebnis, dass seiner Abschiebung nach Somalia zwingende humanitäre Gründe entgegenstehen. Aufgrund seiner individuellen Verhältnisse schließt das Gericht aus, dass es dem Kläger in Somalia gelingen wird, auf sich allein gestellt ein Einkommen zu erzielen, mit dem er seine existentiellen Lebensbedürfnisse zu befriedigen vermag. Dies gilt sowohl für Kismaayo als Zielort der Abschiebung als auch für jeden anderen Ort in Somalia. Aufgrund dessen wird er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit binnen kurzer Zeit gezwungen sein, in einem Lager für Binnenvertriebene zu leben, wo er nicht ausreichend mit Lebensmitteln versorgt werden und schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sein wird, so dass er infolgedessen binnen kurzer Zeit schwere physische und psychische Schäden davontragen wird. Dass die Verhältnisse in den Lagern für Binnenvertriebene in Somalia gegen Art. 3 EMRK verstoßen, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausdrücklich festgestellt (vgl. Urteil vom 28. Juni 2011 - 8319/07 u.a. (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich) -, NVwZ 2012, 681, Rn. 284 bis 292, 303).

Dass sich die Zustände in diesen Lagern seitdem wesentlich verbessert haben, geht aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen nicht hervor.

Maßgeblich für die Einschätzung des Gerichts ist, dass der Kläger seinen glaubhaften Angaben zufolge Somalia bereits im Alter von etwa 15 Jahren verlassen hat und seit etwa acht Jahren in verschiedenen europäischen Ländern gelebt hat. Dementsprechend ist er mit den dortigen Verhältnissen nicht vertraut. Erschwerend kommt hinzu, dass der Kläger nicht über berufliche Fähigkeiten verfügt, die auf dem somalischen Arbeitsmarkt nachgefragt sind (vgl. Internationale Organisation für Migration (IOM), Youth, Employment and Migration in Mogadishu, Kismayo and Baidoa, Februar 2016, S. 62 ff., sowie Labour Market an Service Skills Assessment in Selected Locations - Somalia Report, Januar 2019, S. 50 f.), so dass er auf sich allein gestellt nicht in der Lage sein wird, sein unabdingbares Existenzminimum zu sichern. Seine Erfahrungen als Helfer in der von seinem Vater betriebenen ... werden ihm entgegen der Einschätzung der Beklagten auf dem somalischen Arbeitsmarkt schon deshalb nicht von Nutzen sein, weil der Kläger zu dieser Zeit noch ein Kind war und deshalb nicht über die erforderlichen Kenntnisse zur selbständigen Ausübung dieses Berufs verfügt. Dasselbe gilt hin-sichtlich seiner in Schweden und Deutschland erworbenen Schulbildung; in Somalia sind eher praktische Fähigkeiten oder vertiefte theoretische Kenntnisse, wie sie z.B. ein Studium der Medizin oder des Ingenieurwesens vermitteln, gefragt.

Auf familiäre Unterstützung kann der Kläger ebenfalls nicht zurückgreifen. Seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge, die mit seinen Angaben gegenüber den schwedischen Behörden übereinstimmen, verfügt er weder in Kismaayo noch an einem anderen Ort in Somalia über familiäre Kontakte, ohne die die meisten Personen in Somalia nach den vorstehenden Ausführungen nicht in der Lage sind, ihr unabdingbares Existenzminimum zu sichern. Sein Vater und sein älterer Bruder sind bereits gestorben, der Aufenthaltsort seiner Mutter und seiner Schwestern ist unbekannt. Seine in Äthiopien lebende Tante ist inzwischen ebenfalls verstorben. Zwar leben einige Cousins des Klägers in Schweden. Davon, dass diese für den Lebensunterhalt des Klägers in Somalia aufkommen können und wollen, kann angesichts des relativ weitläufigen Verwandtschaftsverhältnisses nicht ausgegangen werden.

Der Einschätzung des Gerichts steht nicht entgegen, dass der Kläger durch eine freiwillige Rückkehr nach Somalia über das Government Assisted Repatriation Programme (GARP) eine Starthilfe von 1.000,- € erlangen kann (vgl. Bundesamt, Freiwillige Rückkehr mit REAG/GARP (Stand: Januar 2020) abrufbar unter files.returningfromgermany. de/files/200213_REAG_GARP_deutsch.pdf (abgerufen am 20. April 2020)).

Dieser Betrag bietet im Fall des Klägers allenfalls eine anfängliche Unterstützung; sie ist aber nicht ausreichend, um einer unmenschlichen Behandlung des Klägers dar-über hinaus hinreichend effektiv entgegen zu wirken. [...]