VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 02.11.2020 - A 2 K 8011/18 - asyl.net: M29279
https://www.asyl.net/rsdb/m29279
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot hinischtlich Indiens trotz Corona-Pandemie:

Die Auswirkung der Corona-Pandemie sind in Indien nicht so gravierend, dass bei einem jungen, gesunden Mann vom Vorliegen eines Abschiebungsverbots auszugehen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Indien, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, humanitäre Gründe,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

cc) In Delhi/Indien bestehen im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) jedoch keine allgemeinen Lebensbedingungen, die dazu führen würden, dass die Abschiebung nach Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK unzulässig wäre. Die verfügbaren Erkenntnismittel lassen nicht den Schluss zu, dass Rückkehrer ohne Hinzutreten weiterer Umstände so gefährdet wären, dass ihnen stets eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art 3 EMRK aufgrund der schlechten humanitären Lage droht. Indien ist mit über 1,3 Milliarden Menschen und einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt. Trotz der dort unbestritten herrschenden multidimensionalen Armut 27,9 % der Bevölkerung (369,5 Mio.) sind betroffen (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 20) lässt sich eine allgemeine Existenzgefährdung bei einer Rückkehr aus den verfügbaren Erkenntnismitteln nicht entnehmen. Sofern es nicht zu außergewöhnlichen, landesweiten Naturkatastrophen kommt, ist eine für das Überleben ausreichende Nahrungsmittelversorgung auch der schwächsten Teile der Bevölkerung sichergestellt (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 30.03.2020, S. 63; zur gegenwärtigen Nahrungsmittelsituation in Indien: World Food Programme, Hunger Map, India abgerufen am 22.10.2020 unter: hunqermap.wfp.org/). Vorübergehende Notlagen können durch Armenspeisungen im Tempel, insbesondere der Sikh-Tempel, die auch gegen kleinere Dienstleistungen Unterkunft gewähren, ausgeglichen werden (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 21). Rund zwei Drittel aller indischen Familien haben Anspruch auf Nahrungsmittelhilfen aus dem Public Distribution System (PDS), auch wenn dieses Programm noch nicht alle Bedürftigen Indiens erfassen dürfte (Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP aktuell Nr. 29 v. 29.04.2020).

Nichts anderes ergibt sich aus dem derzeitigen Stand der Erkenntnismittel zur Covid-19 Pandemie in Indien. Laut aktuellem Stand sind in Indien mit 7,76 Mio. Menschen im Vergleich zur Bevölkerungsanzahl von circa 1,38 Milliarden Menschen (0,56 %) immer noch vergleichsweise wenig Infizierte registriert. Auch der Anteil der an Covid-19 Verstorbenen mit 117.336 (zu den Zahlen in Indien: de.statista.com/statistik/daten/studie/1124878/umfrage/erkrankungs-und-todesfaelle-aufgrund-des-coronavirus-in-indien/, 0,0085 % der Bevölkerung) ist im Vergleich zu anderen Ländern noch deutlich niedriger (bspw. in Deutschland : 0,01 2 %; www.rki.de/DE/Content/lnfAZ/N/Neuartiges Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-22de.pdf?_blob=publicationFile)). Die Infiziertenzahlen in Indien steigen weiterhin stark an, was zwar auch mit den steigenden Testkapazitäten zusammenhängen dürfte. Das Infektionsgeschehen stellt sich im Land jedoch sehr unterschiedlich dar. Dennoch wurde Indien unbestritten besonders hart von der Corona-Pandemie getroffen, weil ca. 92 % der arbeitenden Bevölkerung im informellen Sektor beschäftigt sind (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 19). Aufgrund des Lockdowns, der teilweise auch mit Polizeigewalt durchgesetzt wurde, ist die Arbeitslosigkeit kurzfristig auf 35 % hochgeschnellt. Seit dem Ende der zweimonatigen Ausgangssperre am 01.06.2020 wurden aber inzwischen fast alle Beschränkungen wieder aufgehoben. Insbesondere im öffentliche Nahverkehr werden die Beschränkungen weiter zurückgefahren. Ein erneuter landesweiter Lockdown ist nicht zu erwarten. Stattdessen versucht man, durch mehr Tests, konsequente Isolierung von infizierten Personen sowie den Ausbau der Krankenhauskapazitäten die Folgen der Pandemie in den Griff zu bekommen (vgl. GTAI, Indien kehrt mit Unlock 4.0 zur Normalität zurück, Allgemeine Situation und Konjunkturentwicklung v. 15.09.2020 www.gtai.de/gtai-de/trade/specials/special/indien/indien-oeffnet-die-wirtschaft-trotz-steigender-coronafaelle-234424). Die Distrikte des Landes werden nach dem Ampelsystem je nach Anzahl der Infektionen zur besseren Maßnahmensteuerung eingeteilt (vgl. GTAI, a.a.O.). So soll gewährleistet werden, dass die Einschränkungen von Wirtschaft und Gesellschaft regional gesteuert und begrenzt werden können, damit nicht das gesamte Land aufgrund "weniger Hotspots" vollständig lahmgelegt ist. Neben der Öffnung der Wirtschaft setzt der Subkontinent auf ein 250 Milliarden Euro schweres Finanz- und Konjunkturpaket, mit dem vor allem die rund 70 Millionen Kleinst-, Klein- und mittleren Unternehmen unterstützt werden sollen. Diese Betriebe sind insbesondere unter Beschäftigungsaspekten die tragende Säule der Wirtschaft. Dadurch sollen Massenentlassungen im Einzelhandel, im Gastgewerbe und anderen besonders betroffenen Branchen verhindert werden (vgl. GTAI, a.a.O.). Dazu kommen internationale Hilfen, wie beispielsweise ein Corona-Sofortprogramm des Bundesentwicklungsministeriums. Im Rahmen dieses Programms wurden 330.000 COVID-19-Testkits, 600.000 Schutzausrüstungen für medizinisches Personal sowie weitere dringend benötigte medizinische Materialien über UNICEF bereitgestellt. Dazu wird das indische Programm "Soziale Sicherung" (vgl. UNDSG, Covid-19: Immediate Socio-Economoic Response Plan v. 27.05.2020; unsdg.un.org/sites/default/files/202009/IND_Socioeconomic-Response_Plan_2020_updated.pdf) mit kurzfristig verfügbaren Krediten von 460 Millionen Euro unterstützt, so dass Nahrungsmittel an 800 Millionen Menschen verteilt und Überbrückungshilfen an 320 Millionen Menschen geleistet werden können, die in der Corona-Krise ihren Job verloren haben (vgl. hierzu auch: International Monetary Fund, Policy Responses to COVID-19 India v. 09.10.2020 www.imf.org/en/Topics/imf-and-covid19/Policy-Responses-to-COVID19. Das indische Programm "soziale Sicherung" hat einen Gesamtumfang von 23 Milliarden Dollar und wird unter anderem von der Weltbank, der Asiatischen Entwicklungsbank und Frankreich unterstützt (vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Pressemitteilung vom 06.09.2020). [...]