EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 23.09.2020 - C-777/18 WO gg. Ungarn - asyl.net: M29428
https://www.asyl.net/rsdb/m29428
Leitsatz:

Voraussetzungen der Kostenübernahme für die medizinische Behandlung von EU-Staatsangehörige in einem anderen Mitgliedstaat:

1. Eine medizinische Versorgung, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Wohnsitzes in Anspruch genommen wird, weil sie im Wohnmitgliedstaat nicht innerhalb eines medizinisch vertretbaren Zeitraums zu erlangen war, fällt unter den Begriff "geplante Behandlung".

2. Die Inanspruchnahme einer solchen Versorgung ist grundsätzlich von einer Genehmigung durch den zuständigen Träger des Wohnmitgliedstaats abhängig.

3. Ein Anspruch auf Erstattung von Behandlungskosten kann auch ohne vorher eingeholte Genehmigung bestehen, wenn aus medizinischen Gründen nicht genug Zeit war, die Genehmigung zu beantragen bzw. die Entscheidung über den Antrag abzuwarten und die weiteren Voraussetzungen für die Übernahme der Kosten erfüllt sind. Nationale Regelungen, die dies grundsätzlich ausschließen, sind unionsrechtswidrig.

4. Nationale Regelungen, die grundsätzlich feste Fristen für die Erteilung und Versagung einer Vorabgenehmigung vorsehen,  zugleich aber dem zuständigen Träger die Berücksichtigung der Besonderheiten und der Dringlichkeit des Einzelfalls erlaubt, sind uniosrechtskonform.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: EU-Staatsangehörige, Behandlungskosten, Vorabgenehmigung, Wohnsitz, medizinische Versorgung, grenzüberschreitende medizinische Versorgung, geplanter Eingriff, freizügigkeitsberechtigt, WO, Ungarn
Normen: VO 883/2004, 883/2004, VO 987/2009, VO, AEUV Art. 56,
Auszüge:

[...]

1. Art. 20 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist in Verbindung mit Art. 26 ("Geplante Behandlungen") der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 im Licht von Art. 56 AEUV dahin auszulegen, dass

- eine medizinische Versorgung, die der Versicherte allein nach seinem eigenen Willen in einem anderen Mitgliedstaat als dem seines Wohnsitzes in Anspruch genommen hat, weil seiner Meinung nach diese Versorgung oder eine ebenso wirksame Versorgung im Wohnmitgliedstaat nicht innerhalb eines medizinisch vertretbaren Zeitraums zu erlangen war, unter den Begriff "geplante Behandlung" im Sinne dieser Vorschriften fällt, so dass die Inanspruchnahme einer solchen Versorgung zu den in der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehenen Bedingungen grundsätzlich von einer Genehmigung durch den zuständigen Träger des Wohnmitgliedstaats abhängig ist;

- der Versicherte, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem seines Wohnsitzes eine geplante Behandlung in Anspruch genommen hat, ohne zuvor gemäß Art. 20 Abs. 1 dieser Verordnung eine Genehmigung durch den zuständigen Träger beantragt zu haben, einen Anspruch auf Erstattung der Kosten dieser Behandlung zu den in dieser Verordnung vorgesehenen Bedingungen hat, wenn

- er zwischen dem Tag der Vereinbarung eines Termins für eine ärztliche Untersuchung und etwaige Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat und dem Tag, an dem er die fragliche Behandlung in diesem Mitgliedstaat, in den er sich eigens begeben musste, erhalten hat, insbesondere wegen seines Gesundheitszustands oder der Dringlichkeit, dort diese Behandlung zu erhalten, außerstande war, beim zuständigen Träger eine solche Genehmigung zu beantragen bzw. die Entscheidung dieses Trägers über einen solchen Antrag abzuwarten, und

- die weiteren Voraussetzungen für die Übernahme der Kosten der Sachleistungen gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 883/2004 im Übrigen erfüllt sind. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die insoweit erforderlichen Feststellungen zu treffen.

2. Art. 56 AEUV und Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die bei fehlender Vorabgenehmigung ausschließt, dass die in einem anderen Mitgliedstaat entstandenen Kosten einer ärztlichen Beratung innerhalb der Grenzen der durch das Krankenversicherungssystem des Versicherungsmitgliedstaats garantieren Deckung erstattet werden. Art. 56 AEUV und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2011/24 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die bei fehlender Vorabgenehmigung – selbst wenn die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme im Übrigen erfüllt wären – ausschließt, dass die Kosten einer in einem anderen Mitgliedstaat erfolgten Krankenhausbehandlung oder medizinischen Versorgung, die den Einsatz einer hoch spezialisierten und kostenintensiven medizinischen Ausrüstung erfordert, innerhalb der Grenzen der durch das Krankenversicherungssystem des Versicherungsmitgliedstaats garantieren Deckung erstattet werden, wenn der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen oder wegen der Dringlichkeit einer solchen Behandlung außerstande war, eine Genehmigung zu beantragen bzw. die Entscheidung des zuständigen Trägers über den Antrag abzuwarten.

3. Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/24 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die eine Frist von 31 Tagen für die Erteilung einer Vorabgenehmigung hinsichtlich der Übernahme der Kosten einer grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung und eine Frist von 23 Tagen für die Versagung einer solchen Genehmigung vorsieht, zugleich aber dem zuständigen Träger die Berücksichtigung der Besonderheiten und der Dringlichkeit des Einzelfalls erlaubt, nicht entgegensteht. [...]