VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 16.02.2021 - 10 K 1671/20.A - asyl.net: M29443
https://www.asyl.net/rsdb/m29443
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für ein Kleinkind wegen drohender Gefahr der Trennung von der Mutter durch Rückkehr nach Äthiopien:

1. Ein Kind, dessen Mutter die eritreische und dessen Vater die äthiopische Staatsangehörigkeit besitzt, hat beide Staatsangehörigkeiten, auch wenn es im Ausland geboren ist.

2. Weder in Äthiopien noch in Eritrea droht einem Mädchen die Genitalverstümmlung, wenn seine Eltern dies nicht wollen. In beiden Ländern ist die Zahl der Genitalverstümmlungen rückläufig, beide Regierungen gehen dagegen vor, in Eritrea sogar mit eiserner Faust.

3. Dies gilt insbesondere dann, wenn weder die Mutter noch der Vater nach regionaler Herkunft, Religion, Bildungsstand u.ä. zu einer Gruppe mit hoher Prävalenz der Genitalverstümmelung gehört.

4. Minderjährige werden in Eritrea nicht stellvertretend für ihre Eltern verfolgt.

5. Die Verfolgung wegen Entziehung vom Nationaldienst knüpft nicht an einen asylrelevanten Verfolgungsgrund an.

6. Ein Kleinkind hat jedoch Anspruch auf den subsidiären Schutzstatus, wenn es im Falle einer Ausreise von seiner Mutter getrennt werden würde, der in Eritrea Verfolgung droht und die mangels Einkommens keinen Anspruch auf Familiennachzug nach Äthiopien hätte. Die Trennung von der Mutter stellt bei einem Kleinkind eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Äthiopien, Eritrea, doppelte Staatsangehörigkeit, Genitalverstümmelung, Kleinkind, Trennung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, subsidiärer Schutz,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4,
Auszüge:

[...]

a. Die Klägerin besitzt zur vollen Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) des erkennenden Gerichts sowohl die eritreische (aa) wie auch die äthiopische Staatsangehörigkeit (bb).

aa. Die Klägerin hat zunächst über ihre Mutter die eritreische Staatsangehörigkeit erlangt. [...]

Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerin außerhalb Eritreas geboren wurde. Dass die Klägerin die Staatsangehörigkeit gegenüber dem eritreischen Innenministerium geltend machen muss, um die hieraus resultierenden Rechte in Anspruch zu nehmen, betrifft den Umstand, dass sie grundsätzlich eritreische Staatsangehörige ist, nicht (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Eritrea: Staatsangehörigkeit, 23. August 2016, S. 2).

Die Klägerin hat ihre eritreische Staatsangehörigkeit auch nicht dadurch verloren, dass sie mit Geburt auch die äthiopische Staatsangehörigkeit erlangt hat. [...]

bb. Die Klägerin besitzt zudem die äthiopische Staatsangehörigkeit. [...]

Dies ist hinsichtlich der Klägerin der Fall, weil ihr Vater äthiopischer Staatsangehöriger ist.

Die Klägerin hat die äthiopische Staatsangehörigkeit auch nicht aufgrund ihrer eritreischen Staatsangehörigkeit verloren. Nach Art. 20 Abs. 2 der Proklamation Nr. 378/2003 wird jeder Äthiopier, der eine fremde Staatsangehörigkeit dadurch erwirbt, dass einer seiner beiden Eltern diese Staatsangehörigkeit besitzt oder dadurch, dass er im Ausland geboren wird, so angesehen, als ob er freiwillig auf seine äthiopische Staatsangehörigkeit verzichtet hat, sofern er nicht der Behörde gegenüber seinen Wunsch erklärt, diese beizubehalten, indem er auf die fremde Staatsangehörigkeit innerhalb eines Jahres nach Erreichen der Volljährigkeit verzichtet. Nach Art. 20 Abs. 4 der Proklamation wird, wer zusätzlich zu seiner äthiopischen Staatsangehörigkeit eine fremde Staatsangehörigkeit beibehält, bis zum Verlust seiner Staatsangehörigkeit gemäß Absatz 2 ausschließlich als äthiopischer Staatsangehöriger angesehen. Demnach konnte die Klägerin ihre bestehende äthiopische Staatsangehörigkeit bisher nicht verlieren, da sie im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch keine 18 Jahre alt war. [...]

aa. Der Klägerin droht in Äthiopien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung durch eine Genitalverstümmelung. [...]

Ob eine weibliche Genitalverstümmelung bei einem Mädchen oder einer Frau vorgenommen wird, hängt auch in Äthiopien maßgeblich vom Verhalten der Eltern des Mädchens ab, weil diese eine Genitalverstümmelung aus eigener Motivation vornehmen oder vornehmen lassen, dem gesellschaftlichen Druck, diese vornehmen zu lassen, nachgeben oder nicht willens oder in der Lage sind, eine Genitalverstümmelung tatsächlich verhindern. Das Vorliegen einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit, dass es bei Rückkehr nach Äthiopien daher zur Vornahme einer Genitalverstümmelung kommt, hängt somit von der Glaubhaftigkeit der Einlassungen der Eltern zu ihrer eigenen diesbezüglichen Einstellung und ihrem sozialen Milieu im Herkunftsstaat ab. [...]

Erst seit 2005 sind die Vornahme einer Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen und diverse Unterstützungshandlungen durch Art. 565, 566 des äthiopischen Strafgesetzbuchs verboten und werden mit einer Geldbuße von 500 Birr oder Freiheitsstrafe bis hin zu zehn Jahren Haft geahndet [...].

In der Praxis gelangen die Strafvorschriften jedoch nur selten zur Anwendung [...].

Erfolgreicher scheinen dagegen die von der äthiopischen Regierung sowie äthiopischen und internationalen Organisationen durchgeführten Kampagnen zur Abschaffung der Genitalverstümmelung zu sein [...].

Landesweit und insbesondere im Großraum Addis Abeba ist die Prävalenzrate bei Neugeborenen und Kleinkindern in den letzten Jahren stak rückgängig, wenn auch mit erheblichen regionalen Unterschieden [...].

Landesweit wird die Prävalenzrate bei Kleinkindern weiblichen Geschlechts auf 25 bis 40% geschätzt. Nach einer Selbstauskunft soll sie für 15 bis 19 jährige Mädchen bei 16% liegen. In den Regionen Afar und Somali ist sie jedoch ungleich höher und auch in der gesamten Region Oromia soll die Genitalverstümmelung noch flächendeckend verbreitet sein [...].

Demnach gehört die Klägerin nicht zur Risikogruppe von Mädchen, denen eine Bescheidung beachtlich wahrscheinlich droht. Ihre Eltern haben in der Anhörung vor dem Bundesamt glaubhaft, da detailliert und nachvollziehbar, dargelegt, aus welchen Gründen sie eine Genitalverstümmelung bei ihrer Tochter nachdrücklich ablehnen. [...]

bb. Der Klägerin droht in Äthiopien auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung aufgrund ihrer tigrinischen Herkunft. Dem Gericht liegen keine Erkenntnisse über eine Verfolgung eritreisch-stämmiger Personen in Äthiopien vor (vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Äthiopien, 8. Januar 2019, S. 28 f.; Auswärtiges Amt, Lagebericht Äthiopien vom 22. März 2018, S. 10; U.K. Home Office, Country Information and Guidance - Ethiopia: People of mixed Eritrean/Ethiopian Nationality, 31. August 2016, Rn. 6.2 ff.; U.S. Department of State, Ethiopia - Human Rights Report, 2017, S. 32 ff.; Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade, Country Information Report: Ethiopia, 28. September 2017, S. 14).

Hieran hat sich auch seit Beginn der militärischen Auseinandersetzung in Tigray im November 2020 nichts Wesentliches geändert. Hierbei kann dahinstehen, ob es sich bei den eritreischen Tigrinja und den äthiopischen Tigray um dieselbe Volksgruppe handelt und ob Eritreer aufgrund des Einsatzes der eritreischen Armee in Tigray oder Tigrayer als Rache für rund dreißig Jahre gewaltsame Regierung durch die TPLF/EPRDF angefeindet werden. Letztlich droht weder das eine noch das andere mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Zunächst erfolgte Massenfestnahmen und Hausdurchsuchungen, wurden zwischenzeitlich wieder eingestellt. Berichte über Diskriminierung und Einschüchterung von Personen, die der Ethnie der Tigriner angehören, gibt es zwischenzeitlich nicht mehr. Zwar wurden zahlreiche Angehörige dieser Ethnie von ihrer Arbeit entlassen und aus sicherheitsrelevanten Positionen entfernt, administrative Einschränkungen für Tigriner in Bezug auf Wohn- und Erwerbsmöglichkeiten sind jedoch nicht bekannt und außerhalb der Region Tigray ist es zu keinen ethnisch motivierten Übergriffen gekommen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien - Ad hoc aktualisierte Fassung, 10. Februar 2021, S. 18 f. [...]

aa. Auch in Eritrea droht der Klägerin nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung durch eine Genitalverstümmelung, da sie dort ebenfalls keiner Risikogruppe angehört und ihre Eltern die Genitalverstümmelung ablehnen.

In Eritrea steht die Genitalverstümmelung seit dem Jahr 2007 unter Strafe. Nach Art. 4 der Proclamation No. 158/2007 droht den Tätern eine mehrjährigen Freiheits- oder Geldstrafe. Die Bußgelder können zwischen 5.000 bis 10.000 Nakfa erreichen, was nach eritreischen Verhältnissen einem mehrfachen Jahreseinkommen entspricht. Hierbei handelt es sich nicht um lediglich symbolische Strafandrohungen. [...]

Ferner betreibt der eritreische Staat ein Programm namens "Habarawi" zur Koordinierung der Maßnahmen gegen die weibliche Genitalverstümmelung. [...]

Dies hat allgemein zu einem starken Rückgang bei der weiblichen Genitalverstümmelung von Neugeborenen und Mädchen geführt [...].

Auch die Vereinten Nationen bescheinigen der eritreischen Regierung insofern ein effektives Vorgehen. [...]

Genitalverstümmelung wird daher eher noch in ländlichen sowie abgelegenen Gebieten im eritreischen Hochland praktiziert und ist maßgeblich vom Bildungsstand der Eltern abhängig, wobei ein geringer Bildungsgrad der Eltern die Vornahme begünstigt. [...]

Demnach gehört die Klägerin nicht zur Risikogruppe von Mädchen, denen eine Genitalverstümmelung in Eritrea beachtlich wahrscheinlich droht. Ihre Eltern haben in der Anhörung vor dem Bundesamt glaubhaft, da detailliert und nachvollziehbar, dargelegt, aus welchen Gründen sie eine Genitalverstümmelung bei ihrer Tochter nachdrücklich ablehnen. Dem Gericht liegen außerdem keine Erkenntnisse darüber vor und dies wurde durch die Eltern der Klägerin auch nicht behauptet, dass in Eritrea eine Genitalverstümmelung gegen den Willen der Eltern durch Familienangehörige oder Dritte vorgenommen oder veranlasst wird. Abgesehen davon verfügt die Klägerin in Eritrea über keine verwandtschaftlichen Beziehungen. […]

1. Subsidiär schutzberechtigt ist gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland, d.h. dem Staat dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat […] mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit […] ein ernsthafter Schaden droht. [...]

2. Bei Anlegung dieses Maßstabs steht der Klägerin ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus zu.

Aus einer dem Alter der Klägerin entsprechenden Sicht eines zweijährigen Kindes stellt eine plötzliche und dauerhafte Trennung von der Mutter und Unterbringung in einer für dieses fremden Umgebung, welche sich bei einer Rückkehr nach Eritrea infolge der Verhaftung der Mutter mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ereignen wird, ein intensives psychisches und nicht zu rechtfertigendes Leiden dar, welches Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erwecken wird.

Dem wird die Klägerin nicht durch eine Rückkehr nach Äthiopien entgegen können, da es insofern gleichfalls zu einer Trennung von der Mutter käme. Die Mutter der Klägerin, welche ausschließlich die eritreische Staatsangehörigkeit besitzt, wird der Familie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht nach Äthiopien folgen können. Als eritreischer Staatsangehörige bedarf die Mutter der Klägerin für die Einreise nach Äthiopien eines Visums oder eines gültigen Daueraufenthaltstitels (Art. 3 Nr. 1 lit. b) Immigration Proklamation 254/2003 abgedr. in: Federal Negarit Gazeta 9. Jg. Nr. 75, 3. Juli 2003). Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Minden vom 13. November 2020, S. 1).

Die Mutter der Klägerin besitzt aber weder einen äthiopischen Daueraufenthaltstitel noch ist es wahrscheinlich, dass sie eine Erlaubnis für die Einreise erhalten wird, welche über die Dauer eines Touristenvisums mit Gültigkeit von 90 Tagen hinausginge. Die Regelungen des äthiopischen Einwanderungs- und Aufenthaltsrechts werden durch die äthiopischen Behörden restriktiv angewandt (vgl. Schröder, Stellungnahme für das VG Kassel vom 20. August 2019, Rn. 125; Schröder. Stellungnahme für das VG Karlsruhe vom 3. April 2019, Rn. 128).

Für die Ausstellung eines Aufenthaltstitels aus dem Grund des Ehenachzugs (Art. 28 Council of Ministers Regulation on Immigration No. 114/2004, abgedr. in: Federal Negarit Gazeta 11. Jg. Nr. 4, 20. Oktober 2004) - vorausgesetzt dass zwischen den Eltern der Klägerin eine nach äthiopischem Recht anerkannte Ehe besteht - müsste die Mutter der Klägerin mit einem Visum zum Zweck der Immigration nach Äthiopien einreisen, um anschließend einen Daueraufenthaltstitel erhalten zu können. Ein Visum zum Zweck der Immigration wird nur bei Nachweis eines Einkommens erteilt (Art. 13 Council of Ministers Regulation on Immigration No. 114/2004, abgedr. in: Federal Negarit Gazeta 11. Jg. Nr. 4, 20. Oktober 2004 i.V.m. Art. 5 Immigration Proclamation 254/2003 abgedr. in: Federal Negarit Gazeta 9. Jg. Nr. 75, 3. Juli 2003) (so auch: BFM, Focus Äthiopien/Eritrea - Personen eritreischer Herkunft in Äthiopien, 19. Februar 2010, S. 12).

Derzeit können aber weder die Mutter noch der Vater der Klägerin den Bezug eines Einkommens zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Äthiopien nachweisen. [...]