Stattgebender Eilbeschluss wegen möglichem Abschiebungsverbot wegen der schlechten humanitären Lage in Venezuela:
Aufgrund der tiefen Wirtschaftskrise und des totalen Zusammenbruchs des staatlichen Versorgungs- und Gesundheitssystems ist eine Existenzsicherung ohne Einbindung in ein familiäres Umfeld, in dem eine (teilweise) Selbstversorgung sichergestellt ist, auch für Personen ohne besonderen Schutzbedarf nicht möglich.
(Leitsätze der Redaktion)
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Venezuela steckt bereits seit Jahren in der tiefsten Wirtschaftskrise seiner Geschichte, was zu einem akuten Mangel an Devisen führt, der praktisch keine Importe zulässt. Es herrscht Mangelwirtschaft, nicht nur bei Lebensmitteln und Konsumgütern, sondern auch bei Medikamenten und allen wichtigen Vormaterialien für die Industrieproduktion (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Venezuela, 13.12.2019, S 30). Seit dem Verfall des internationalen Ölpreises im Jahr 2014 ist das venezolanische Bruttoinlandsprodukt um mehr als 70% gesunken. Der venezolanische Mindestlohn liegt bei gerade einmal 5 US-Dollar pro Monat (vgl. SWP-Aktuell, Nr. 66, Venezuelas Polykrise, August 2020). Das Land erlebt eine Phase der Hyperinflation oder seit vergangenem Jahr eine "chronische" Inflation mit Episoden von Hyperinflation, die die Kaufkraft der Bevölkerung schmälert und die Beschaffung von Nahrungsmitteln, Arzneimitteln und weiteren Grundversorgungsgütern erschwert. Die Höhe der Inflation fällt je nach Quelle unterschiedlich aus: Am 4.2.2020 gab die Zentralbank des Landes die Inflationsrate für 2019 mit 9585,5 % an, während der Finanzausschuss der Nationalversammlung für dasselbe Jahr von 7274,4 % ausging. Nach Angaben desselben Ausschusses betrug die Inflationsrate von Januar bis April 2020 341,61 %, wobei ein Anstieg der Preise für Grundversorgungsgüter im April 2020 um 80 % zu verzeichnen war (European Asylum Support Office - EASO - Venezuela Länderfokus, August 2020, S. 19). Für das Jahr 2019 prognostizierte der Internationale Währungsfonds (IMF) im April 2019 eine Arbeitslosenquote von 44,3 Prozent, für das Jahr 2020 eine Arbeitslosenquote von 47,9 Prozent (vgl. ACCORD, Venezuela: Politischer Kontext, Demonstrationen und Gewalt, humanitäre Lage, September 2019, S. 11 ). Da in den Lebensmittelgeschäften selbst Basisprodukte wie Reis, Milch, Brot, Maismehl, Zucker oder Speiseöl nicht mehr zu subventionierten Preisen angeboten werden, können sich über 80 % der Venezolaner eine ausreichende Grundnahrung nicht mehr leisten. Aus diesem Grund verteilt die Regierung etwa alle 2 bis 3 Wochen, je nach Verfügbarkeit, zu minimalen Preisen ein Lebensmittelpaket (CLAP-Kisten), mit den wichtigsten Produkten. Der Anspruch auf diese Pakete ist allerdings politisch gekoppelt. Bezugsberechtigte müssen sich registrieren und für politische Aktivitäten der Regierung zur Verfügung stehen (BFA, a.a.O.). Bei dem CLAP-Programm (Comites Locales de Abastecimiento y Producci6n, deutsch: Lokale Komitees zur Versorgung und Produktion) handelt es sich um ein Programm zur Verteilung und Lieferung von Nahrungsmitteln zu staatlich kontrollierten Preisen, wobei einkommensschwache Familien Priorität haben. Die CLAP liefern CLAP-Kisten, die verschiedene Lebensmittel enthalten. Allerdings deckt das CLAP-Programm nicht die Ernährungsbedürfnisse der Bevölkerung. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) erläuterte in ihrem Bericht vom Juni 2019, dass das CLAP-Programm ein politisiertes, militarisiertes und diskriminierendes Programm sei, das von den Empfängerinnen der Nahrungsmittel verlange, über eine Karte mit Angabe der Parteizugehörigkeit zu verfügen, die wiederum den Bezug von Sozialleistungen bestimme. Nach Angaben eines venezolanischen Forschers an der Universität Oslo benötigt man den "Carnet de la Patria" (deutsch Heimatkarte), um CLAP-Kisten zu erhalten. Dabei handle es sich um eine Art digitalen Personalausweis, der von den Behörden vor allem dazu genutzt werde, um die Bevölkerung zu überwachen und die politischen Aktivitäten derer, die Sozialleistungen wie CLAP-Kisten erhalten würden, zu verfolgen (vgl. ACCORD, a.a.O., S. 14 f). Trotz staatlich subventionierten Essens wird berichtet, dass die Unterernährung zugenommen habe, insbesondere in den Gebieten mit den höchsten Armutsraten. Man schätzt, dass 1,9 Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe benötigen, darunter 1,3 Millionen Kinder unter fünf Jahren. Human Rights Watch und die Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health schrieben in einem im April 2019 veröffentlichten Bericht zur humanitären Notlage in Venezuela, dass Hunger, Unterernährung und ein schwerer Mangel an Nahrungsmitteln weit verbreitet seien (vgl. ACCORD, a.a.O., S. 13 m.w.N.). Hinzu kommen Abschaltungen des Stroms und zeitweise Stromausfälle, die in Venezuela seit 2010 zugenommen haben. Ein mehrtägiger landesweiter Stromausfall im März 2019 hatte u. a. Auswirkungen auf die Landwirtschaft, die Kommunikationsnetzwerke, das Gesundheitswesen und die Wasserversorgung (vgl. BMF, Länderreport 17, Venezuela, Stand: 9/2019, S. 8). Die extreme Medikamenten- und Lebensmittelknappheit in Venezuela sowie die Ausbreitung von Krankheiten über die Landesgrenzen hinweg stellen eine komplexe humanitäre Notlage dar. Berichten zufolge gibt es eine steigende Anzahl von Todesfällen bei Müttern und Säuglingen sowie die unkontrollierte Ausbreitung von Krankheiten wie Masern und Diphterie, die durch entsprechende Impfungen vermeidbar wären. Ein starker Anstieg von Infektionskrankheiten wie Malaria und Tuberkulose in Venezuela wurde ebenfalls dokumentiert. Das öffentliche Gesundheitssystem in Venezuela ist nicht mehr in der Lage, Kranke adäquat zu versorgen oder notwendige Operationen durchzuführen. Etwas besser ausgestattet ist derzeit noch der private Sektor, wo allerdings auch schon massive Mangelerscheinungen beobachtet werden. Viele Medikamente und Medizinprodukte sind auch dort nicht mehr bzw. nur noch sehr eingeschränkt erhältlich. Eine adäquate medizinische Notfallversorgung ist in vielen Landesteilen nicht gewährleistet. Dies trifft in zunehmendem Maße auch die Städte. Ernsthafte Erkrankungen und Verletzungen müssen im Ausland (USA oder Europa) behandelt werden. Krankenhäuser verlangen eine Vorschusszahlung (Bargeld, Kreditkarte) bevor sie Patienten aufnehmen und behandeln. Viele Ärzte sowie Pflegepersonal haben das Land verlassen. Krankenhäuser und Kliniken sind ferner von Wasserrationierung und Stromausfällen betroffen (BFA, a.a.O., S. 32 m.w.N.). Die Corona Pandemie hat die ohnehin schon komplizierte wirtschaftliche und soziale Situation zusätzlich verschlechtert und traf das desolate Gesundheitssystem unvorbereitete (vgl. SWP-Aktuell, Nr. 66, August 2020, Venezuelas Polykrise).
Nach alledem geht das Gericht davon aus, dass sich in Venezuela ein gänzlich auf die Interessen des herrschenden Regimes abgestelltes Versorgungssystem etabliert hat. Während das allgemeine Versorgungs- und vor allem das Gesundheitssystem vollständig zusammengebrochen sind, werden über das sogenannte CLAP-Programm nur diejenigen versorgt, die das Regime unterstützen. Ohne Einbindung in ein familiäres Umfeld, im Rahmen dessen eine (teilweise) Selbstversorgung gewährleistet ist, erscheint derzeit eine Sicherstellung der Existenz unmöglich (vgl. auch VG Dresden, Beschlüsse vom 7.5.2020 - 13 L 283/20 - und vom 31.3.2020 - 13 L 235/20.A -). [...]