VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 26.02.2021 - 37 K 118.19 A - asyl.net: M29474
https://www.asyl.net/rsdb/m29474
Leitsatz:

Keine Gefahr politischer Verfolgung der Opposition in Armenien seit der Revolution 2018:

Seit dem Machtwechsel im April 2018 durch die "Samtene Revolution" hat sich die politische Lage in Armenien grundlegend verändert, so dass es keine Hinweise mehr auf politische Verfolgung der Opposition gibt, darunter auch von Mitgliedern der rechtsnationalistischen Gruppe Sasna Tsrer. Auch unter Berücksichtigung des aktuellen Konflikts mit Aserbaidschan ist nicht damit zu rechnen, dass die Republikanische Partei wieder an die Macht kommt. Doch selbst in diesem Fall bestünde keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine weitere Verfolgung wegen lediglich untergeordneter Unterstützungshandlungen für Sasna Tsrer.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Armenien, politische Verfolgung, Opposition, Sasna Tsrer,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

24 Letztlich kann aber dahinstehen, ob der Kläger zu 1) im Jahr 2016 tatsächlich wegen begründeter Furcht vor Verfolgung ausgereist ist, da jedenfalls nach den politischen Umwälzungen in Armenien durch die sogenannte Samtene Revolution im Jahr 2018 im Falle einer Rückkehr keine Verfolgungsgefahr (mehr) besteht.

25 Dem Kläger zu 1) droht keine Verfolgung von Vertretern der Vorgängerregierung, insbesondere von der Republikanischen Partei Armeniens. Die politischen Kräfte, von denen sich der Kläger nach seinen eigenen Angaben bedroht fühlte, sind seit den Umwälzungen durch die Samtene Revolution nicht mehr an der Macht. In seiner Anhörung beim Bundesamt gab der Kläger auf Nachfrage ausdrücklich an, er fürchte sich vor Verfolgung und Repressalien durch die "republikanische Partei". Tatsächlich wurde die politische Landschaft in Armenien bis zur Samtenen Revolution von der "Republikanischen Partei Armeniens" dominiert, die damals 55 der insgesamt 105 Parlamentssitze stellte (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. April 2020, S. 9 – der Lagebericht ist Teil der im Internet unter der Adresse www.berlin.de/gerichte/verwaltungsgericht/service/erkenntnismittellisten/armenien/). Seit der vorgezogenen  Parlamentswahl vom 9. Dezember 2018 ist die Republikanische Partei jedoch nicht mehr im Parlament vertreten. Vielmehr stellt nun das Wahlbündnis "Mein Schritt" von Premierminister Pashinyan 88 der 132 Parlamentssitze. Von der Republikanischen Partei, die ihre Regierungsmacht verloren hat, droht dem Kläger somit nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung.

26 Dem Kläger zu 1) droht im Falle einer Rückkehr auch keine Verfolgung von Seiten der aktuellen Regierung. Dem Gericht liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Vertretern von Oppositionsgruppen im Allgemeinen bzw. Mitgliedern der Gruppierung Sasna Tsrer im Konkreten von staatlichen Stellen in Armenien Verfolgung droht.

27 Seit der Samtenen Revolution hat sich die politische Lage in Armenien ganz grundsätzlich geändert und entspannt. Nachdem der damalige Premierminister Serzh Sargsyan aufgrund von Massenprotesten zurückgetreten ist und der Anführer der Opposition Nikol Pashinyan zum neuen Premierminister gewählt wurde, hat sich das innenpolitische Klima in Armenien deutlich verbessert. Die alten Machtstrukturen wurden aufgebrochen und vor allem im Kampf gegen Korruption und beim Aufbrechen der alten verkrusteten Strukturen hat Pashinyan sichtbare Erfolge erzielt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 27. April 2020, a.a.O., S. 5 und 13). Die Menschenrechtslage in Armenien hat sich seit der Samtenen Revolution generell verbessert. Laut Auswärtigem Amt sind keine staatlichen Beschränkungen der Aktivitäten von Vertretern der Zivilgesellschaft oder eine Einschränkung der Meinungsfreiheit zu beobachten (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. April 2020, a.a.O., S. 5). Dies gilt auch für die politische Opposition. Sowohl die Oppositionsparteien als auch die außerparlamentarische Opposition können sich frei äußern. Behinderungen und Ungleichbehandlungen der Oppositionsparteien durch die Behörden, z.B. bei Demonstrationen oder Wahlen, kommen nicht mehr vor (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. April 2020, a.a.O., S. 9). Es gibt seit April 2018 auch keine Hinweise auf eine staatliche Verfolgung ehemals aktiver Oppositioneller, namentlich Wahlkamphelfer oder Demonstranten (vgl. Dr.Tessa Savvidis, Auskunft vom 30. Juni 2019 an das VG Greifswald, S. 1). Die klägerische Behauptung, die aktuelle politische Führung in Armenien dulde nach wie vor keinerlei demokratische Widerworte und unterbinde jegliche politische Opposition mit undemokratischen Mitteln, kann vor dem Hintergrund dieser aktuellen Erkenntnisse nicht nachvollzogen werden, zumal sie durch keine konkreten und nachprüfbaren Belege untermauert wird. [...]

29 Die pauschale und nicht weiter belegte Behauptung, Angehörige der Gruppe Sasna Tsrer würden in Armenien aktuell weiterhin politisch verfolgt, steht auch im Gegensatz zu den aktuellen Erkenntnissen, die dem Gericht zu dieser Gruppierung vorliegen. Demnach handelt es sich bei den Sasna Tsrer ("Recken von Sassun") um eine Gruppierung, die bis zur Samtenen Revolution als rechtsnationalistische bewaffnete Oppositionsgruppe gegen die damalige pro-russische Regierung in Armenien aktiv war (vgl. Dr.Tessa Savvidis, a.a.O., S. 3; sowie Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Armenien, vom 17. März 2020, S. 22). Am 29. Juli 2016 kam es in der Hauptstadt Eriwan zu einem Vorfall, bei dem Angehörige und Sympathisanten der Sasna Tsrer eine Polizeistation besetzten, Geiseln nahmen und drei Polizisten töteten (vgl. Dr. Tessa Savvidis, a.a.O., S. 3; Österreichisches Bundesamt, a.a.O.). Zwar wurden tatsächlich mehrere hundert Teilnehmer der Sasna Tsrer-Demonstration am 29. Juli 2016 vorübergehend verhaftet. Größtenteils wurden sie aber nach kurzer Zeit wieder freigelassen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. April 2019, juris, S. 8). Gegen ca. 30 Demonstranten wurden Strafverfahren eingeleitet und etwa 20 Personen wurden u.a. wegen Gewalt gegen die Polizei zu mehrjährigen Freiheitsstrafen u.a. wegen Anstiftung zu Massenunruhen verurteilt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. April 2019, a.a.O., S. 8). [...]

30 Zwar trägt der Kläger zu 1) vor, er habe aufgrund seiner vorherigen Unterstützungsleistungen für die Sasna Tsrer, insbesondere die Beschaffung von Fahrzeugen und Benzin, dennoch mit strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen. Dies ist jedoch nicht beachtlich wahrscheinlich. Selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstellen würde, dass Angehörige der Sasna Tsrer in Armenien aktuell weiter von staatlichen Stellen verfolgt werden, so ist schon nicht ersichtlich, weshalb angesichts der nur untergeordneten Unterstützungsleistungen des Klägers (Beschaffung von Benzin und Fahrzeugen) nach Ablauf von mehreren Jahren überhaupt noch ein Verfolgungsinteresse bestehen sollte.

31 Dies kann aber letztlich dahinstehen, da dem Gericht keine belastbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Angehörigen der Sasna Tsrer aktuell in Armenien von staatlichen Stellen Verfolgung droht. Die vorliegenden Erkenntnisse lassen im Gegenteil auf einen milden Umgang der aktuellen Regierung selbst mit denjenigen Mitgliedern der Sasna Tsrer schließen, die – anders als der Kläger – unmittelbar an der sogenannten Geiselnahme von Eriwan im Jahr 2016 beteiligt waren. So gab es im Zuge der Samtenen Revolution weitreichende Amnestien für eine Reihe von inhaftierten radikalen Oppositionellen. Auch die Mitglieder von Sasna Tsrer profitierten nach den vorliegenden Erkenntnissen von den weitreichenden Amnestien (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, a.a.O.; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. April 2019, a.a.O.). Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass etwaige strafrechtliche Ermittlungen gegen den Kläger zu 1) jedenfalls im Zuge der großzügigen Amnestien nach der Samtenen Revolution eingestellt wurden. [...]

34 Auch die aktuellen politischen Unruhen in Armenien, auf die sich der Kläger zu 1) zuletzt in der mündlichen Verhandlung berufen hat, ändern nichts an der Einschätzung des Gerichts, wonach diesem im Falle einer Rückkehr nach Armenien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Der Kläger zu 1) hat vorgetragen, es sei nur eine Frage von Tagen, dass die aktuelle Regierung durch einen Militärputsch gestürzt werde und die alten Machteliten erneut an die Macht kämen. Dann habe er als Angehöriger der Oppositionsgruppe Sasna Tsrer durch die alten republikanischen Kräfte das Schlimmste zu befürchten. Dieser Einschätzung vermag das Gericht nicht zu folgen.

35 Zwar ist die innenpolitische Lage in Armenien zurzeit angespannt (vgl. hierzu die Einschätzung des Auswärtigen Amtes zur Sicherheitslage in Armenien: www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/armenien-node/ armeniensicherheit/201872). Grund hierfür ist der Ausgang des jüngsten bewaffneten Konflikts zwischen Armenien und seinem Nachbarland Aserbaidschan. Zwischen Ende September und Mitte November 2020 fand in der Region Bergkarabach die schwerste militärische Auseinandersetzung zwischen aserbaidschanischen und armenischen Streitkräften seit dem Ende des ersten Karabach-Kriegs im Jahr 1994 statt. Durch eine von Russland vermittelte Waffenstillstandsvereinbarung wurde der sechswöchige Krieg in der Nacht vom 9. zum 10. November 2020 (vorläufig) beendet. Im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens verpflichtete sich Armenien zur Rückgabe der zuvor von armenischen Truppen kontrollierten und als Pufferzone zu Aserbaidschan betrachteten Distrikte in der Umgebung Bergkarabachs an Aserbaidschan (vgl. hierzu den zusammenfassenden Bericht der Bundeszentrale für politische Bildung vom 26. November 2020, www.bpb.de/internationales/welt-weit/innerstaatliche-konflikte/224129/ nagorny-karabach). In der Folge des Waffenstillstands, der von den Armeniern als verheerende Niederlage und Demütigung empfunden wurde, kam es in den letzten Wochen und Monaten zu innenpolitischen Unruhen und massiven Protesten gegen die Regierung Pashinyan. Aktuellen Presseberichten lässt sich entnehmen, dass sich die Lage in den letzten Tagen massiv zugespitzt hat. So berichtete unter anderem die Tagesschau am 25. Februar 2021, die Militärführung fordere den Rücktritt des Premiers. Zahlreiche hochrangige Offiziere hätten eine Rücktrittsforderung an Pashinyan und seine Regierung unterschrieben. Hierauf habe der Premier mit dem Vorwurf reagiert, das Militär wolle gegen die Regierung putschen (vgl. www.tagesschau.de/thema/armenien/, abgerufen am 26. Februar 2021). Dies wird auch durch Meldungen der Deutschen Presseagentur (dpa) vom 25. Februar 2021 bestätigt (vgl. dpa Meldung 1708 vom 25.02.2021 17:37 Uhr).

36 Trotz der unstreitig angespannten innenpolitischen Lage in Armenien hält das Gericht es nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger zu 1) im Falle einer Rückkehr Verfolgung durch die alten Machteliten, insbesondere die Republikanische Partei, droht. Es ist zurzeit völlig unklar, in welche Richtung sich die innenpolitische Lage in Armenien entwickelt. Das vom Kläger zu 1) beschriebene Szenario ist somit zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rein hypothetisch und reicht nicht aus, um eine beachtliche Verfolgungsgefahr zu begründen.

37 Selbst falls es in Armenien tatsächlich zu einem Militärputsch kommen sollte, so ist offen, welche politischen Kräfte dann an die Macht kämen. Nach den aktuellen Presseberichten ist die armenische Öffentlichkeit gespalten. Zwar haben sich in den vergangenen Wochen tausende Unterstützer den Protesten der durch die alten Machteliten angeleiteten Opposition angeschlossen. Ebenso viele gingen aber zur Unterstützung der Regierung Pashinyan auf die Straße (vgl. dpa Meldung, a.a.O.). Zudem sind die alten republikanischen Machteliten in den Augen großer Teile der Bevölkerung wegen jahrelangem Machtmissbrauch, massiven Wahlfälschungen und Korruption diskreditiert. Umfragen zufolge geben 32 Prozent der Menschen in Armenien der Vorgängerregierung die Schuld an der Kriegsniederlage und 29 Prozent der seit 2018 regierenden Partei Pashinyans. Dementsprechend ist auch die öffentliche Meinung in Bezug auf Pashinyan gespalten, 43 Prozent sind für seinen Rücktritt, während 38 Prozent ihn – auch mangels Alternativen – weiter als Premier wollen. Kein anderer Politiker schneidet in Umfragen besser ab als der amtierende Premier (vgl. Tagesschau-Berichterstattung, a.a.O.). Die aktuelle Regierung erfährt demnach nach wie vor Unterstützung aus weiten Kreisen der Bevölkerung. [...]