VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 02.12.2020 - 13 K 3688/16.A - asyl.net: M29504
https://www.asyl.net/rsdb/m29504
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für verwitwete afghanische Frau:

Alleinstehende, verwitwete Frauen bilden in Afghanistan eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Einer Frau, die im Haushalt des Bruders des verstorbenen Ehemannes verbleiben musste und von diesem misshandelt wurde, ist daher die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Paschtunen, Witwe, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, interner Schutz, soziale Gruppe, verwitwet,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat nach der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG. [...]

Nach den angeführten Maßstäben hat die Klägerin eine Vorverfolgung ausreichend glaubhaft gemacht. Die Verfolgung knüpft an eine bestimmte soziale Gruppe gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b Abs, 1 Nr. 4 AsylG und geht nach § 3c Nr. 3 AsylG von einem nichtstaatlichen Akteur aus. Ein wirksamer staatlicher Schutz ist nicht ersichtlich (§ 3d Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AsylG). Zudem scheidet in der individuellen Situation der Klägerin eine inländische Fluchtalternative aus (§ 3d AsylG).

Sie hat nachvollziehbar und widerspruchsfrei dargestellt, dass sie sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den Bruder ihres verstorbenen Mannes außerhalb Afghanistans aufhält. Der glaubhaft gemachte Missbrauch durch den Schwager, dessen Haushalt die Klägerin mit den Kindern nach dem Tod ihres eigenen Mannes zwangsweise angehörte, sowie die Drohung mit der Ermordung der Klägerin stellt jeweils eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 2 bzw. Nr. 1 AsylG dar. Die Geschichte ist glaubhaft, weil die Schilderung der Erlebnisse keine Widersprüchlichkeiten, Lücken oder unrealistischen Passagen aufweist und auch in Ansehung der gesellschaftlichen Verhältnisse plausibel ist. Beide Handlungen knüpfen dabei an den Verfolgungsgrund des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, weil die Klägerin der Gruppe der alleinstehenden, verwitweten Frauen in Afghanistan angehört. Dabei handelt es sich um einen Hintergrund im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a) AsylG, der nicht verändert werden kann. Der Klägerin ist es aufgrund der gesellschaftlichen Konventionen untersagt, erneut zu heiraten und selbst wenn es ihr erlaubt wäre, käme lediglich der sie gefährdende Schwager in Betracht, weil sie nach dem Tod des Mannes zu dessen Haushalt gehört, was im unabänderbaren Umstand der Witwenschaft begründet ist. Die Gruppe hat in Afghanistan auch eine deutlich abgrenzbare Identität im Sinne § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b) AsylG und wird von der sie umgebenen Gesellschaft als andersartig betrachtet. Dabei ist nicht lediglich auf die Männer als Gesellschaft abzustellen, sondern auch auf andere Frauen, die - wenn auch in den patriarchalischen Strukturen in einer sehr schwachen Position - dennoch Teil der Gesellschaft sind.

Es ist auch eine Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und dem Verfolgungsgrund gegeben, weil der Schwager nur durch das Ableben seines Bruders in die Position gekommen ist, die Klägerin wie zuvor beschrieben zu behandeln und aufgrund ihrer Verweigerung mit dem Tode zu drohen. Wirksamer Schutz durch den Staat, Parteien oder Organisationen (§ 3d Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG) ist nicht ersichtlich. Insbesondere hat die Klägerin glaubhaft vorgetragen, dass der Schwager zu ihrer Tötung bereit ist, was sich abseits von nicht ersichtlichen Gewaltschutzprogrammen nicht mit der notwendigen Wirksamkeit ausschließen lässt. Der klägerische Vortrag deckt sich mit der Erkenntnismittellage. So ist eine Verteidigung der Rechte von Frauen aufgrund der gesellschaftlichen Gegebenheiten und einer überwiegend männlichen Richterschaft nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Sorgerecht, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA, Lagebericht vom 16. Juli 2020, S. 15).

Des Weiteren ist für die Klägerin entgegen der Annahme des Bundesamtes im streitgegenständlichen Bescheid keine interne Schutzalternative ersichtlich. Die Klägerin war zwar in der Lage, alleine mit ihren vier Kindern aus Kabul nach Josjan zu flüchten und hat angegeben, ihre beiden Töchter bei ihrer Schwester und dem familiären Umfeld in Sicherheit gebracht zu haben, allerdings hat sie ebenfalls nachvollziehbar geschildert, dass nur für diese dort Platz war, weil für die Aufnahme zum einen Geld gegeben wurde und zum anderen die Mädchen im Haushalt jeweils eine Arbeitskraft darstellen. Die Familie der Klägerin sieht den Platz einer Witwe im Einklang mit den gesellschaftlichen Konventionen ebenfalls beim Schwager. Nach nunmehr fünf Jahren in Deutschland scheidet eine interne Flucht zu der Familie zudem aus, weil von einer gesellschaftlichen Ächtung der Klägerin auszugeben ist. Die Klägerin hat schlüssig vorgetragen, dass in ihrer Familie zwar ein gewisses Maß an Mitleid vorhanden sei, dieses aber nicht ausreiche, um grundlegende gesellschaftliche Annahmen außer Kraft zu setzen. Es ist ihr nicht zumutbar in der Gefahr, dass die Information über ihre Rückkehr den Schwager erreicht, sie auf einen internen Schutz in Josjan zu verweisen. Diesem ist der Herkunftsort der Klägerin bekannt und er ist mobil. In der Gesamtschau der Umstände hält es der Einzelrichter für beachtlich wahrscheinlich, dass der Klägerin weiterhin Schaden droht. Es ist auch keine anderweitige Fluchtalternative ersichtlich, insbesondere in Anbetracht des Bildungsgrads der Klägerin und ihrer geringen körperlichen Belastbarkeit, die ausreichend mit den eingereichten Attesten belegt ist. Die Klägerin kann in dieser Situation auch nicht auf eine anderweitige Schutzmöglichkeit verwiesen werden. Es gibt in den großen Städten zwar Frauenhäuser, die zum Teil auch über einen längeren Zeitraum Zuflucht bieten, doch sind die Frauen danach in der Regel ohne jegliche Perspektive und gesellschaftlich isoliert. Da in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt ist, erscheint es für unverheiratete oder alleinstehende Frauen weitgehend unmöglich, erneut Fuß zu fassen (AA, Lagebericht vom 16. Juli 2020, S. 15). Aufgrund der zu erwartenden subjektiven Ausweglosigkeit kann von der Klägerin nicht im Sinne des Prüfungsmaßstabs vernünftiger Weise erwartet werden, sich in einer Großstadt niederzulassen. Vielmehr wäre lediglich eine akute Notlage zu vermeiden, was wie dargestellt nicht ausreicht. [...]