Flüchtlingsanerkennung für syrischen Mann wegen Wehrdienstentziehung:
1. Personen, die sich dem Wehrdienst in Syrien entzogen haben, ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
2. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass wehrpflichtige Personen in Syrien unabhängig von ihrem Einsatzort dazu veranlasst werden, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung von Kriegsverbrechen im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG teilzunehmen, da im Kontext des syrischen Bürgerkriegs wiederholte und systematische Kriegsverbrechen durch die syrische Armee dokumentiert sind und der syrische Bürgerkrieg nach wie vor anhält.
3. Wehrdienstentziehern droht in Syrien Bestrafung bzw. Strafverfolgung.
4. Es besteht eine Verknüpfung zwischen der Verfolgungsgefahr und dem Merkmal der politischen Überzeugung nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Es spricht eine starke Vermutung dafür, dass bei einer Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, der die Teilnahme an der Begehung von Kriegsverbrechen umfasst (Art. 9 Abs. 2 Bst. e QualifkationsRL) ein Zusammenhang mit einem der in Art. 10 QualifkationsRL benannten fünf Verfolgungsgründe besteht.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 EZ gg. Deutschland (Asylmagazin 12/2020, S. 424 ff.) - asyl.net: M29016)
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2. Der gleichwohl festzustellende Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich daraus, dass er begründet befürchtet, Opfer einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG zu werden. Denn die tatbestandlichen Voraussetzungen einer solchen Verfolgungshandlung sind erfüllt (a.) und es kann auch die gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung zwischen dieser Verfolgungshandlung und einem in der Person des Klägers liegenden Verfolgungsgrund festgestellt werden (b.). [...]
Im vorliegenden Fall steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass der Kläger den Militärdienst im syrischen Bürgerkrieg verweigert hat (aa.), dass dieser Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (bb.) und dass dem Kläger deswegen eine Strafverfolgung oder Bestrafung droht (cc.). [...]
bb. Ebenso steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass der vom Kläger verweigerte Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen.
Denn der syrische Bürgerkrieg war nach den vorliegenden Erkenntnismitteln in der Vergangenheit von der Anwendung systematischer Gewalt gegen zivile Ziele und Zivilisten – auch unter Verwendung von Fassbomben und Giftgas und auch unter Einsatz von Wehrpflichtigen – geprägt und dieser Krieg ist auch noch nicht beendet, sondern wird – unter Einsatz von Wehrpflichtigen – mit denselben Mitteln in Teilen des Landes immer noch fortgeführt. So wird in der aktuellsten Fortschreibung des Berichts des Auswärtigen Amtes über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019 mit Stand vom Mai 2020 u.a. festgestellt, dass die syrische Regierung auch bei den andauernden Kämpfen um die Region Idlib im Nordwesten Syriens weiter eine Strategie anwendet, die von den Vereinten Nationen als "Taktik der verbrannten Erde" bezeichnet wird. Luftangriffe auf zivile Infrastruktur wie Schulen, Krankenhäuser, Märkte und Flüchtlingslager führten laut Angaben der Vereinten Nationen zu der größten humanitären Katastrophe im Verlauf des Syrienkonflikts. Infolge der Kampfhandlungen waren zwischenzeitlich 980.000 Menschen vertrieben worden. Auch wenn in jüngerer Zeit unter Vermittlung der Türkei und Russlands eine Waffenruhe vereinbart wurde, die bisher weitgehend eingehalten wird, kommt es immer wieder zu einzelnen Gefechten, inklusive schwerer Artillerieangriffe. Die Waffenruhe gilt weiterhin als fragil. Auch im Nordosten Syrien kommt es immer noch vereinzelt zu Kampfhandlungen und Anschlägen. Die Regierung Assad hat wiederholt öffentlich erklärt, dass die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes weiterhin ihr erklärtes Ziel sei.
Dass noch unbekannt war und ist, wo der Kläger im Rahmen seines Wehrdienstes eingesetzt worden wäre oder würde, ist nach der Entscheidung des EuGH vom 19. November 2020 ohne rechtliche Relevanz, Denn danach ist die oben genannte Vorschrift dahin auszulegen, dass der Militärdienst eines Wehrpflichtigen, der seinen Dienst in einem Konflikt verweigere, ohne seinen künftigen militärischen Einsatzbereich zu kennen, unabhängig vom Einsatzgebiet unmittelbar oder mittelbar die Beteiligung an Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 QRL bzw. § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde, wenn er im Kontext eines allgemeinen Bürgerkrieges stattfindet, der durch die wiederholte und systematische Begehung solcher Verbrechen oder Handlungen gekennzeichnet ist (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 –, Rn. 38). Dass dies bezogen auf den syrischen Bürgerkrieg der Fall ist, ergibt sich aus den obigen Darlegungen.
cc. Dem Kläger droht aufgrund seiner Verweigerung des Militärdienstes in diesem Krieg auch eine Bestrafung bzw. Strafverfolgung. Denn die Wehrdienstentziehung steht nach dem syrischen Militärstrafgesetz unter Strafe. In Kriegszeiten kann je nach den Umständen eine Haftstrafe von bis zu 5 Jahren verhängt werden, wobei die vorgesehenen gesetzlichen Sanktionen keine systematische und einheitliche Anwendung finden, sondern oftmals willkürlich getroffen werden sollen (Auswärtiges Amt, Lagebericht 2019 vom 12. November 2019, Seite 12; SFH, Syrien: Aufschub des Militärdienstes für Studenten, Seite 6).
b. Auch die nach § 3a Abs. 3 AsylG zu fordernde Verknüpfung zwischen den als Verfolgung eingestuften Handlungen und einem der in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe liegt im Fall des Klägers vor.
aa. Ausgangspunkt ist auch insoweit die Rechtsprechung des EuGH, wonach zwischen der Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG und einem der asylrechtlich relevanten Verfolgungsgründe eine Verknüpfung bestehen muss, deren Vorliegen anhand aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles auch vom Gericht zu überprüfen ist (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 –, Rn. 50).
Der Entscheidung des EuGH lässt sich weiter entnehmen, dass eine Verknüpfung der Bestrafung mit einem Verfolgungsgrund i.S.v. § 3b AsylG vorliegt, wenn sich die – unter den Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 e) QRL erklärte – Verweigerung, an die wiederum die Bestrafung/Strafverfolgung anknüpft, auf einen solchen Verfolgungsgrund zurückführen lässt. Dies wird belegt durch die Ausführungen des EuGH in dem vorgenannten Urteil unter der Rn. 47 ("In diesen Fällen können die Verfolgungshandlungen, zu denen diese Verweigerung Anlass geben kann, diesen Gründen zugeordnet werden.") und Rn. 55 ("Insoweit stellen die Gründe für die Verweigerung des Militärdienstes und folglich die Strafverfolgung, zu der sie führt, subjektive Gesichtspunkte des Antrags dar, …").
Schließlich besteht nach der Entscheidung des EuGH eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e QRL bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG näher erläuterten Voraussetzungen mit einem der fünf – in Art. 10 QRL bzw. § 3b AsylG genannten – Verfolgungsgründe in Zusammenhang steht (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 –, Rn. 57). Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörden und Gerichte, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 –, Rn. 61).
Diese Prüfung erfordert es, die Haltung des Betroffenen zu klären, die ihn bewogen hat, den Militärdienst zu verweigern. Dementsprechend ist eine festgestellte Verweigerung des Militärdienstes nicht gleichsam automatisch einem Verfolgungsgrund im Sinne der genannten Vorschriften zuzuordnen; sie kann ebenso gut auch durch die – nur zu verständliche – Furcht begründet sein, sich den Gefahren auszusetzen, die die Ableistung des Militärdienstes im Kontext eines bewaffneten Konflikts mit sich bringt (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 a.a.O., Rn. 48 f.). Trifft letzteres zu, lässt sich also die Verweigerung des Militärdienstes keinem der Verfolgungsgründe zuordnen, greift auch die vom Europäischen Gerichtshof aufgestellte Vermutung hinsichtlich eines Kausalverhältnisses zwischen der Verweigerung, daran anknüpfenden Verfolgungsgründen und einer daraus abgeleiteten Verfolgungshandlung nicht ein.
bb. Vorliegend ist das Gegenteil der Fall.
Denn der Kläger hat bereits in der Anhörung vor der Beklagten im Jahr 2016 vorgetragen, dass er (auch) aus Syrien ausgereist sei, um sich dem drohenden Wehrdienst zu entziehen. Zu der hinter dieser Verweigerung des Militärdienstes stehenden Motivation hat er schon damals gesagt, er sei gegen den Krieg und wolle nicht töten.
Damit vertritt der Kläger in einer Angelegenheit, die den syrischen Staat als potenziellen Verfolger sowie dessen Politik betrifft, eine abweichende Meinung, was nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG unter den Begriff der "politischen Überzeugung" zu subsumieren ist. Seine Verweigerung und folglich auch die ihm deshalb drohende Bestrafung knüpft somit an eine politische Überzeugung an.
Der bekannte Sachverhalt bietet keine Anhaltspunkte für Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Klägers oder an der Glaubhaftigkeit seiner Angaben. Damit ist die vom EuGH aufgestellte Vermutung im vorliegenden Einzelfall nicht widerlegt. [...]