OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Beschluss vom 11.01.2021 - 3 EO 279/19 - asyl.net: M29527
https://www.asyl.net/rsdb/m29527
Leitsatz:

Aufenthaltserlaubnis nach Wechsel des Studiengangs setzt Studienfortschritt voraus:

"Eine Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken ist nach § 16 b Abs 4 Satz 1 Alt. 4 AufenthG auch von den Studienfortschritten des Antragstellenden abhängig."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Studium, Zweckwechsel, Aufenthaltszweck, Wechsel des Aufenthaltszwecks, Studiengangwechsel, Fachrichtungswechsel, Studiendauer, Ermessen, Anspruch, Studienfortschritt,
Normen: AufenthG § 16b Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Grundsätzlich kommt eine Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach § 8 Abs. 1 AufenthG nur zum Zweck einer lückenlosen Legalisierung des Aufenthalts ohne Wechsel des Aufenthaltszwecks in Betracht (BVerwG, Urteil vom 22. Juni 2011 - 1 C 5.10 -, BVerwGE 140, 64-72, juris Rn. 14). Nach § 16b Abs. 2 Satz 4 AufenthG wird eine Aufenthaltserlaubnis nur verlängert, wenn der Aufenthaltszweck noch nicht erreicht ist und in einem angemessenen Zeitraum noch erreicht werden kann.

Der Begriff des Aufenthaltszwecks knüpft dabei an das konkret betriebene Studium an. Nicht entscheidend ist der abstrakte Aufenthaltszweck "Studium" (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Februar 2008 - 13 S 2774/07 - juris Rn. 6). Ein Wechsel des Studiums bedeutet daher auch einen Wechsel des Aufenthaltszwecks. Ein Studienwechsel kann nur dann als Fortführung des ursprünglichen Aufenthaltszwecks verstanden werden, wenn es sich entweder nur um eine Schwerpunktverlagerung handelt, der Wechsel innerhalb einer Orientierungsphase von 18 Monaten ab Aufnahme des Studiums erfolgt (vgl. noch zu § 16 AufenthG a. F. Ziff. 16.2.5. Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz - AVwV - AufenthG) oder die Gesamtstudiendauer sich nicht um mehr als 18 Monate verlängert (zu § 16 AufenthG a. F.: VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. April 2019 - 7 K 4692/18 - juris Rn. 32 unter Verweis u. a. auf VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 3. April 1989 - 11 S 348/89 - juris Rn. 7; s. a. Fleuß, in BeckOK AusländerR, 25. Ed. Stand 1. März 2020, § 16b AufenthG Rn. 60). [...]

aa. Ein gesetzlicher Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AufenthG folgt für die Antragstellerin nicht allein aus dem Umstand, dass sie für den neuen Studiengang Biotechnologie durch die Ernst-Abbe-Hochschule zugelassen wurde.

(1) Zwar bestimmt § 16b Abs. 1 Satz 1 AufenthG, dass einem Ausländer zum Zweck des Vollzeitstudiums an einer Hochschule eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird, wenn er von dieser zugelassen worden ist. Damit gewährt er scheinbar einen gebundenen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Durchführung eines Studiums (vgl. zu § 16 Abs. 1 Satz 1 AufenthG a. F. VG Freiburg, Beschluss vom 20. Juni 2018 - 1 K 3401/18 - juris Rn. 18; VG Braunschweig, Beschluss vom 22. Februar 2018 - 4 B 331/17 - juris Rn. 26; vgl. zu § 16b AufenthG n. F. auch Hailbronner, Ausländerrecht, 115. Lfg., StdB März 2020, § 16b AufenthG Rn. 45g). [...]

(2) Der Annahme, dass der Gesetzgeber eine Koppelung von der Studiumszulassung (durch die Hochschule) und Erteilung der Aufenthaltserlaubnis durch die Ausländerbehörde uneingeschränkt statuieren wollte, ist jedoch nicht zu folgen. [...]

(b) Die in der Gesetzesbegründung offenbar angenommene oder zumindest erwartete Gleichbehandlung des Studienwechsels mit der erstmaligen Aufnahme eines Studiums steht mit dem Sinn und Zweck der Regelung sowie der Gesetzessystematik des § 16b AufenthG nicht im Einklang.

Der Ausnahmecharakter des § 16b Abs. 4 Satz 1 AufenthG, wird bereits im Wortlaut der Norm durch die Formulierungen "...darf ... nur ..." deutlich. Nochmals gestützt wird dies durch die sich anschließenden vier Fallvarianten einzelner Ausnahmen. Insbesondere in § 16b Abs. 4 Satz 1 Var. 1 bis 3 AufenthG sind ganz konkrete beschäftigungsbezogene Ausnahmetatbestände vom Zweckwechselverbot vorgesehen. In § 16b Abs. 4 Satz 1 Var. 4 AufenthG taucht hingegen als Auffangtatbestand pauschal nur die Bezeichnung des Falles eines "gesetzlichen Anspruchs" auf. Würde dies zusammen mit § 16b Abs. 1 Satz 1 AufenthG so zu verstehen sein, dass der Anspruch ohne weitere Einschränkungen jeden Studienwechsel erfassen würde, wenn der Ausländer nur von einer Hochschule zugelassen worden ist, dann würde die Sperrwirkung des § 16b Abs. 4 Satz 1 AufenthG für den Wechsel des Aufenthaltszwecks durch den Studienwechsel unterlaufen (vgl. bereits zu § 16 AufenthG a. F. VG Freiburg, Beschluss vom 20. Juni 2018 - 1 K 3401/18 - juris Rn. 18; VG Braunschweig, Beschluss vom 22. Februar 2018 - 4 B 331/17 - juris Rn. 26). Bei einer solchen Annahme könnte ein Ausländer - ohne weitere Prüfung - durch den bloßen Wechsel des Studiums immer wieder einen Aufenthaltstitel erlangen, was der in der Systematik von § 16b Abs. 2 Satz 1 und 4 und Abs. 4 Satz 1 AufenthG erkennbaren Intention des Gesetzes, dass ein Zweckwechsel während seines Aufenthalts grundsätzlich verboten ist, zuwiderlaufen. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund, dass § 16b Abs. 2 Satz 1 AufenthG die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken beschränkt, § 16b Abs. 2 Satz 4 AufenthG eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis für denselben Studienzweck nur zulässt, wenn der Aufenthaltszweck in angemessener Zeit noch erreicht werden kann. All dies spricht gegen die Annahme eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus § 16b Abs. 1 AufenthG für ein weiteres Studium, nur weil der Ausländer von einer Hochschule zu einem anderen Studium zugelassen worden ist (vgl. bereits zu § 16 AufenthG a. F. VG Freiburg, Beschluss vom 20. Juni 2018 - 1 K 3401/18 - juris Rn. 22; VG Braunschweig, Beschluss vom 22. Februar 2018 - 4 B 331/17 - juris Rn. 28).

(c) Ein anderes Ergebnis, allein wegen der Zulassung durch eine Hochschule zu einem Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis zu kommen, würde zudem zu einer unvereinbaren Ungleichbehandlung und Verletzung von Art. 3 GG führen. Der ausländische Student, der sein begonnenes Studium weiterführen möchte, erhält eine Verlängerung seines Aufenthaltstitels nach § 16b Abs. 2 Satz 4 AufenthG nur, wenn der Aufenthaltszweck noch nicht erreicht ist und in einem angemessenen Zeitraum noch erreicht werden kann. Ein sachlicher Grund dafür, warum derjenige, der sein bisheriges Studium abbricht und zu einem neuen Studium zugelassen wird, bessergestellt werden sollte und ohne ein entsprechendes Prognoseerfordernis beliebig oft eine neue Aufenthaltserlaubnis erhalten sollte, ist nicht ersichtlich. Insbesondere könnte sich dieser ausländische Student veranlasst sehen, das Erfordernis einer positiven Prognoseentscheidung einfach durch den Wechsel des Studienfachs zu umgehen.

bb. Für die Antragstellerin ergibt sich auch kein die Sperrwirkung des § 16b Abs. 4 Satz 1 AufenthG durchbrechender gesetzlicher Anspruch nach § 16b Abs. 1 AufenthG unter analoger Heranziehung des § 16b Abs. 2 Satz 4 AufenthG in dem Sinne, dass ein Ausländer bei einem Studienwechsel einen gesetzlichen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel zu Studienzwecken dann hat, wenn der Aufenthaltszweck - also der erfolgreiche Abschluss des Studiums - unter Berücksichtigung der bisherigen Studienfortschritte in einem angemessenen Zeitraum noch erreicht werden kann (i. E. auch Fehrenbacher, in HTK-AuslR, Stand: 09.07.2020, § 16b AufenthG Abs. 4 Rn. 17).

(1) Eine solche analoge Anwendung kommt hier in Betracht. Für den Fall des Studienwechsels - der auch einen Wechsel des Aufenthaltszweckes bedeutet - besteht eine planwidrige Regelungslücke, die eine analoge Anwendung des für den vergleichbaren Fall der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken geltenden § 16b Abs. 2 Satz 4 AufenthG erfordert. Eine solche Regelungslücke darf von den Gerichten im Wege der Analogie geschlossen werden, wenn sich aufgrund der gesamten Umstände feststellen lässt, dass der Normgeber die von ihm angeordnete Rechtsfolge auch auf den nicht erfassten Sachverhalt erstreckt hätte, wenn er ihn bedacht hätte (BVerwG, Beschluss vom 11. September 2008 - 2 B 43.08 - juris Rn. 7 m. w. N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. November 2019 - 4 S 143/19 - juris Rn. 22 m. w. N.).

Für die dargelegte Regelungslücke ist dem Gesetzgeber weder zu unterstellen, dass er bewusst eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung schaffen wollte, noch dass der Gesetzesbegründung die Fehlvorstellung zugrunde liegt, dass die Richtlinie (EU) 2016/801 einen entsprechenden Anspruch vorgibt (vgl. auch Hailbronner, Ausländerrecht, 115. Lfg., StdB März 2020, § 16b AufenthG Rn. 45g). Im Gegenteil dürfte es gerade Art. 21 Abs. 2 f) Richtlinie (EU) 2016/801 zulassen, auch bei einem Wechsel des Studiums unzureichende Studienfortschritte zu berücksichtigen (vgl. auch VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. April 2019 - 7 K 4692/18 - juris Rn. 41 und 43). [...]

(3) Es kann hier nicht festgestellt werden, dass die Antragstellerin den Aufenthaltszweck - Abschluss des Studiums - noch in angemessener Zeit erreichen kann.

(a) Ob der Aufenthaltszweck nach den bisher erreichten Studienfortschritten - insbesondere der erbrachten Zwischenprüfungen und Leistungsnachweise (Samel, in Bergmann/ Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 16b AufenthG Rn. 13) - noch in angemessener Zeit erreicht werden kann, ist anhand einer wertenden Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalls zu prognostizieren. Dabei ist im Ausgangspunkt die durchschnittliche Studiendauer an der betreffenden Hochschule, in dem jeweiligen Studiengang zugrunde zu legen (VG Karlsruhe, Beschluss vom 22. April 2020 - 7 K 5184/19 - juris; VG Münster, Anerkenntnisurteil vom 12. März 2020 - 3 L 152/20 - juris Rn. 15; Samel, in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 16b AufenthG Rn. 18). Die besonderen Schwierigkeiten für Ausländer in einem Studium in Deutschland sind angemessen zu berücksichtigen (VG Karlsruhe, Beschluss vom 22. April 2020 - 7 K 5184/19 -; Fleuß, in BeckOK Ausländerrecht, 25. Lfg.. St. d. B. 1. März 2020, § 16b AufenthG Rn. 43 mit Verweis auf BVerwG, Beschluss vom 2. März 1994 - 1 B 10.94 - zu § 28 Abs. 2 Satz 2 AuslG 1990; zu § 16 AufenthG a. F. auch schon VG Karlsruhe, Beschluss vom 3. April 2017 - 7 K 7667/16 - juris Rn. 4).

Der Aufenthaltszweck kann danach grundsätzlich nur dann in einem angemessenen Zeitraum noch erreicht werden, wenn der Ausländer bis zum voraussichtlichen Abschluss des Studiums die durchschnittliche Studiendauer, an der jeweiligen Hochschule in dem von ihm gewählten Studiengang nicht um mehr als drei Semester überschreiten wird (VG Karlsruhe, Beschluss vom 22. April 2020 - 7 K 5184/19 -; VG Münster, Anerkenntnisurteil vom 12. März 2020 - 3 L 152/20 - juris Rn. 15; Fleuß, in BeckOK Ausländerrecht, 25. Lfg., StdB 1. März 2020, § 16b AufenthG Rn. 43 m. w. N. zu Vorgängervorschriften; s. a. Ziff. 16.1.1.6.2 AVwV-AufenthG). Daraus, dass ein Studierender sein Studium nicht erfolgreich abschließt und das Studienfach - ggf. auch mehrfach - wechselt, kann aber nicht in jedem Fall auf unzureichende Studienfortschritte geschlossen werden. Es kommt stets auf die Umstände des Einzelfalls an. Die pauschale Ablehnung jedes Folgestudiums entspricht insbesondere nicht der in Art. 21 Abs. 7 Richtlinie (EU) 2016/801 geforderten Einzelfallprüfung (VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. April 2019 - 7 K 4692/18 - juris Rn. 41, 43). [...]