VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.03.2021 - A 12 S 91/21 - asyl.net: M29539
https://www.asyl.net/rsdb/m29539
Leitsatz:

Hinweispflicht des Gerichts bei unvollständigem Antrag auf Prozesskostenhilfe:

"Grundsätzlich muss auch ein vom Rechtsmittelführer persönlich eingereichter, schriftlicher Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe als bestimmender Schriftsatz unterschrieben sein. Von diesem Grundsatz gibt es Ausnahmen, wenn sich auch ohne eigenhändige Namenszeichnung aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Rechtsverkehrswillen ergibt.

Mit Blick auf den aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruch des Rechtsuchenden auf ein faires Verfahren ist es geboten, einen nicht anwaltlich vertretenen Beteiligten, der einen isolierten Prozesskostenhilfeantrag stellt, ohne eine ausgefüllte Formblatterklärung vorzulegen, darauf hinzuweisen, dass der von ihm gestellte Prozesskostenhilfeantrag unvollständig ist und er innerhalb der Rechtsmittelfrist eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem amtlichen Vordruck einreichen muss.

Zur Verletzung des rechtlichen Gehörs im Fall der Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Abwesenheit des Klägers trotz wirksamer Stellung eines Verlegungsantrags (hier bejaht)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylverfahren, Prozesskostenhilfe, Bevollmächtigung, Vollmacht, Terminsverlegung, Krankheit, rechtliches Gehör, Berufungszulassungsantrag, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Unterschrift, faires Verfahren,
Normen: VwGO § 60 Abs. 1, VwGO § 104 Abs. 3 S. 2, VwGO § 166 Abs. 1 S. 1, ZPO § 114 Abs. 1 S. 1, ZPO § 227 Abs. 1 S. 1, AsylG § 78 Abs. 4, AsylG § 78 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Zwar muss grundsätzlich auch ein vom Rechtsmittelführer persönlich eingereichter, schriftlicher Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe als bestimmender Schriftsatz unterschrieben werden  (BGH, Beschluss vom 07.06.2006 - VIII ZB 96.05 -, juris Rn. 10). Sinn der Schriftform ist es, die Identität des Absenders festzustellen und gleichzeitig klarzustellen, dass es sich nicht um einen Entwurf, sondern um eine gewollte prozessuale Erklärung handelt (Senatsbeschluss vom 13.08.2018 - 12 S 1476/18 -, juris Rn. 6). Bei der Auslegung und Anwendung prozessrechtlicher Vorschriften ist jedoch mit Gewicht in Rechnung zu stellen, dass diese nicht Selbstzweck sind, sondern letztlich der Wahrung der materiellen Rechte der Prozessbeteiligten dienen (näher BVerwG, Beschluss vom 02.01.2017 - 5 B 8.16 -, juris Rn. 7; Senatsbeschluss vom 13.08.2018 - 12 S 1476/18 -, juris Rn. 6). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gibt es daher Ausnahmen vom Grundsatz des Unterschriftserfordernisses, wenn sich auch ohne eigenhändige Namenszeichnung aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Rechtsverkehrswillen ergibt. Entscheidend ist insoweit, ob sich aus dem bestimmenden Schriftsatz allein oder in Verbindung mit beigefügten Unterlagen die Urheberschaft und der Wille, das Schreiben in den Rechtsverkehr zu bringen, hinreichend sicher ergeben, ohne dass darüber Beweis erhoben werden müsste (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.12.2001 - 3 B 33.01 -, juris Rn. 2). Die anhand der Antragsschrift ersichtliche Kenntnis von Umständen, die im Regelfall nur dem Betroffenen bekannt sind, kann geeignet sein, über das Fehlen einer eigenhändigen Unterschrift hinwegzuhelfen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 04.07.2002 - 2 BvR 2168/00 - juris Rn. 24; Senatsbeschluss vom 13.08.2018 - 12 S 1476/18 -, juris Rn. 6). Dasselbe gilt für einen auf dem Briefumschlag vollzogenen eigenhändigen Namenszug im Absendervermerk (BVerwG, Urteile vom 06.12.1988 - 9 C 40/87 -, juris Rn. 9, und vom 17.10.1968 - 2 C 112.65 -, juris Rn. 16). [...]

Ein Prozesskostenhilfegesuch ist grundsätzlich nur dann in bescheidungsfähiger Form im vorstehenden Sinn angebracht, wenn neben dem Antrag innerhalb der Rechtsmittelfrist auch die notwendigen Angaben über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der erforderlichen Form vorgelegt werden. Diese Voraussetzung erfüllt der Kläger nicht. [...]

Allerdings ist vorliegend mit Blick auf den aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruch des Rechtsuchenden auf ein faires Verfahren eine Abweichung von den dargestellten Grundsätzen geboten. Die aus dem Fairnessgebot resultierende Verpflichtung des Gerichts zur Rücksichtnahme auf die Beteiligten gilt im Prozesskostenhilfeverfahren in besonderem Maße, da die Prozesskostenhilfe das aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG folgende Gebot der Rechtsschutzgleichheit verwirklichen soll, indem Bemittelte und Unbemittelte in den Chancen ihrer Rechtsverfolgung gleichgestellt werden. Da dieses Verfahren den grundgesetzlich gebotenen Rechtsschutz nicht selbst bietet, sondern erst zugänglich macht, dürfen die Anforderungen - sowohl an den Vortrag der Beteiligten als auch bei der Prüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse - nicht überspannt werden. Das gilt nicht nur für den ersten Zugang zum Gericht, sondern für die Wahrnehmung aller Instanzen, die eine Prozessordnung vorsieht (vgl. Senatsbeschluss vom 16.07.2020 - 12 S 1558/20 -, juris Rn. 7; OVG Hamburg, Beschluss vom 22.01.2020 - 1 Bf 3/20.Z -, juris Rn. 18 m.w.N.). Die Pflicht des Gerichts zur Rücksichtnahme kann es gebieten, einen Beteiligten, der - wie der Kläger - einen isolierten Prozesskostenhilfeantrag stellt, ohne eine ausgefüllte Formblatterklärung vorzulegen, darauf hinzuweisen, dass der von ihm gestellte Prozesskostenhilfeantrag unvollständig ist und er innerhalb der Rechtsmittelfrist eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem amtlichen Vordruck einreichen muss. Dies ist namentlich dann geboten, wenn der Beteiligte nicht rechtskundig beraten ist und deshalb (erkennbar) keine Kenntnis von den Voraussetzungen hat, die erfüllt sein müssen, um im Fall eines isolierten Prozesskostenhilfeantrags Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erlangen zu können (vgl. Senatsbeschluss vom 16.07.2020 - 12 S 1558/20 -, juris Rn. 7; OVG Hamburg, Beschluss vom 22.01.2020 - 1 Bf 3/20.Z -, juris Rn. 23). Da der Kläger erstmals mit der Eingangsverfügung des Senats vom 14.01.2021 zur Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Belegen aufgefordert worden ist, er dieser Aufforderung sodann innerhalb der gesetzten Frist durch Vorlage der Formblatterklärung beim Verwaltungsgericht nachgekommen ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Kläger anderweitig Kenntnis von den oben genannten Voraussetzungen gehabt hat, kann ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähr t werden. [...]

Das Gebot des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) gibt einem Prozessbeteiligten das Recht, im verwaltungsgerichtlichen Verfahren alles aus seiner Sicht Wesentliche vorzutragen, und verpflichtet das Gericht, dieses Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzustellen. Die Durchführung der mündlichen Verhandlung und die Entscheidung des Gerichts trotz Abwesenheit eines Beteiligten ist gemäß § 102 Abs. 2 VwGO grundsätzlich gestattet, wenn in der Ladung - wie vorliegend der Fall - auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist. Gleichwohl kann die Entscheidung des Gerichts, den Termin zur mündlichen Verhandlung nicht zu verlegen bzw. zu vertagen, den Anspruch eines Prozessbeteiligten auf rechtliches Gehör verletzen, wenn die Terminverlegung bzw. Vertagung gemäß § 227 ZPO i.V.m. § 173 Satz 1 VwGO aus erheblichen Gründen geboten ist. Das von § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO eröffnete Ermessen ist dann auf Null reduziert. Das rechtliche Gehör gebietet die Aufhebung, Verlegung oder Vertagung eines Verhandlungstermins, wenn ein Verfahrensbeteiligter ohne sein Verschulden an der Teilnahme gehindert ist. Einen beachtlichen Hinderungsgrund stellt insbesondere die vorübergehende Verhandlungsunfähigkeit wegen einer Erkrankung dar. Die prozessuale Mitwirkungspflicht jedes Prozessbeteiligten gebietet es ferner, dass ein Antrag auf Terminverlegung unverzüglich gestellt wird, nachdem die Verhinderung bekannt wird (BVerwG, Beschlüsse vom 20.04.2017 - 2 B 69.16 -, juris Rn. 8, und vom 25.01.2016 - 2 B 34.14 -, juris Rn. 20 f.; OVG Nordrhein- Westfalen, Beschluss vom 02.07.2020 - 13 A 1241/19.A -, juris Rn. 3 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 04.11.2020 - A 11 S 3308/20 -, juris Rn. 10). [...]

Unerheblich dürfte sein, ob der Verlegungsantrag der Einzelrichterin noch vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung am 27.11.2020 um 10:20 Uhr zur Kenntnis gelangt ist. Denn das dem Gericht nach § 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO eingeräumte Ermessen, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen, dürfte sich mit Blick auf den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer entsprechenden Verpflichtung verdichtet haben (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 01.03.1995 - 8 C 36.92 -, juris Rn. 34). [...]