VG Potsdam

Merkliste
Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 10.11.2020 - 14 K 5030/17.A - asyl.net: M29547
https://www.asyl.net/rsdb/m29547
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen iranischen Kurden wegen Aktivitäten für die Demokratischen Partei Kurdistan – Iran (PDKI) und exilpolitischen Aktivitäten:

1. Kurdische oppositionelle Gruppen, die wie die PDKI in Verdacht stehen, separatistische Ziele zu verfolgen, werden im Iran unterdrückt. Aktivist*innen werden in unfairen Verfahren zu harten Gefängnisstrafen verurteilt. Die Verfolgung kurdischer Oppositioneller beschränkt sich nicht ausschließlich auf Parteimitglieder in hohen Positionen.

2. Iranische Sicherheitsdienste beobachten und erfassen seit Jahren die politischen Aktivitäten von Exiliraner*innen. Die Überwachung von exilierten Regierungskritiker*innen scheint seit den Unruhen im Jahr 2009 zugenommen zu haben. Diejenigen, die sich öffentlich kritisch zu den Vorgängen im Iran äußern, müssen bei einer Rückkehr mit Problemen rechnen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Kurden, Demokratische Partei Kurdistan Iran, PDKI, Flüchtlingsanerkennung, politische Verfolgung, Exilpolitik,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnislage droht dem Kläger wegen der von ihm vorgetragenen (exil-)politischen Aktivitäten für die PDKI und das kurdische Volk bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verfolgung durch den iranischen Staat. Einer abschließenden Entscheidung hinsichtlich der Frage, wie sich der Umstand, dass der Kläger den Iran lediglich auf Anordnung der Partei verlassen hat, auf eine mögliche Vorverfolgung auswirkt, bedarf es daher nicht.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe vermerkt in ihrer Länderanalyse vom 16. November 2010 (Iran: Illegale Ausreise/Situation von Mitgliedern der PDKI/Politische Aktivitäten im Exil, S. 3 ff.), dass die PDKI die älteste kurdische Oppositionsgruppe ist. Sie hat 1991 den bewaffneten Kampf aufgegeben, verurteilte den Einsatz von Gewalt und strebt die staatliche Anerkennung kurdischer Rechte in einer föderalen iranischen Republik an. Im Iran haben sich die Repressionen gegen politische Aktivisten und Gegner des Regimes verstärkt. Kurdische oppositionelle Gruppen, die wie die PDKI in Verdacht stehen, separatistische Ziele zu verfolgen, werden brutal unterdrückt. Aktivisten werden in unfairen Verfahren zu harten Gefängnisstrafen verurteilt. Die Verfolgung kurdischer Oppositioneller beschränkt sich nicht ausschließlich auf Parteimitglieder in hohen Positionen. Der Besitz einer Broschüre oder einer CD mit Informationen zur Partei kann als ein die nationale Sicherheit bedrohender Akt aufgefasst werden. Angesichts des zunehmenden Drucks auf die kurdische Minderheit werden kurdische Iraner, die mehrere Jahre im Ausland gelebt haben, bei einer Rückkehr mit großer Wahrscheinlichkeit von den Geheimdiensten intensiv verhört. Iranische Sicherheitsdienste beobachten und erfassen seit Jahren die politischen Aktivitäten von Exiliranern. Allerdings ist es äußerst schwierig, den Grad der Überwachung von unregelmäßig aktiven Demonstrierenden oder von Personen, die ohne Schlüsselposition an Sitzungen der regierungskritischen Organisationen teilnehmen, einzuschätzen. Die Überwachung von exilierten Regierungskritikern scheint seit den Unruhen im Jahr 2009 zugenommen zu haben. Die, die sich öffentlich kritisch zu den Vorgängen im Iran äußern, müssen bei einer Rückkehr mit Problemen rechnen. Bis heute ist die PDKI eine der großen Oppositionsparteien des iranischen Regimes. Asylbewerber, die an Demonstrationen einer großen Oppositionsgruppe wie der PDKI teilgenommen haben, riskieren bei einer Rückkehr verfolgt zu werden. Die iranischen Behörden hätten außerdem Mitarbeitende an verschiedene Demonstrationen entsandt, um Teilnehmende zu fotografieren. Diese Fotografien sollen anschließend am Internationalen Flughafen Imam Khomeini verwendet worden sein, um im Ausland lebende Iraner bei der Ausreise nach einem Besuch in Iran zu kontrollieren.

Nach einer Stellungnahme von ACCORD (Anfragebeantwortung zum Iran: Lage von Mitgliedern der Democratic Party of Kurdistan Iran, Verfolgung von Mitgliedern durch iranische Behörden im Nordirak [a-8553] vom 18. November 2013) ist es unmöglich zu sagen, wo die Reizschwelle der Regierung gegenüber kurdischen Aktivitäten liegt. Es gibt keine klare Logik und keine klare rote Linie. Grundsätzlich gibt es keine Toleranz des iranischen Regimes für irgendwelche Aktivitäten in Verbindung mit kurdischen politischen Parteien. Allerdings ist das System im Iran so kompliziert, dass man nicht vorhersagen kann, welche Gruppe am meisten gefährdet ist; dies ändert sich auch ständig. Des Weiteren hat der iranische Geheimdienst eine starke Präsenz in der kurdischen Region im Nordirak.

Nach einer weiteren Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Iran: Gefährdung eines Mitglieds der KDP bei der Rückkehr in den Iran, S. 2 ff) werden kurdische Oppositionsgruppen, welche separatistischer Aspirationen verdächtigt werden, im Iran brutal unterdrückt, sie können dort nicht legal tätig sein. Diese Mitglieder werden oftmals unter falschem Vorwand verhaftet und unfairen Gerichtsverfahren unterworfen sowie zu schweren Strafen verurteilt. Die iranische Regierung duldet keinerlei Aktivitäten im Zusammenhang mit kurdischen politischen Parteien im Iran. Im Iran müssen auch Unterstützer mit niedrigem Profil mit Haft und Folter rechnen. Des Weiteren sind Rückkehrer aus dem Irak, die dort in Kontakt mit kurdischen Exilparteien gestanden haben, Gefährdungen ausgesetzt. Der iranische Geheimdienst zeigt in den kurdischen Gebieten im Irak eine starke Präsenz und pflegt gute Beziehungen zur irakischen Zentralregierung sowie den irakisch kurdischen Parteien. Iranische Behörden überprüften Rückkehrende, ob sie im Irak gelebt hätten. Alle Personen aus diesem Bereich, insbesondere diejenigen, die sich lange in den kurdischen Gebieten aufgehalten haben, seien für die Behörden verdächtigt. Sie würden von den iranischen Behörden einer genauen Überprüfung unterzogen, um ihre dortigen Aktivitäten herauszufinden. Wenn eine Person in Kontakt mit der KDPI oder anderen politischen Parteien war, ist davon auszugehen, dass sie in Schwierigkeiten gerät.

Der Danish Immigration Service (vgl. Country Report, Iranian Kurds, Consequences of political activities in Iran an KRI, Februar 2020, S. 19 ff.) berichtet in diesem Zusammenhang, dass in Einzelfällen bereits einfache Aktivitäten wie die Teilnahme an Demonstrationen oder an Streiks ausreichen würden, um der Zusammenarbeit mit der Opposition beschuldigt zu werden. Die konkrete Behandlung variiere jedoch von Fall zu Fall und hänge unter anderem vom zuständigen Beamten ab. Zusammenfassend könne man sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, Ziel politischer Verfolgungsmaßnahmen zu werden, grundsätzlich mit dem Grad des oppositionellen Engagements, insbesondere in Kurdengebieten, zunimmt.

In den vorliegenden Lageberichten des Auswärtigen Amtes (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 26. Februar 2020, S. 12; vom 8. Dezember 2016, Stand: Oktober 2016, S. 9 sowie vom 9. Dezember 2015, Stand: November 2015, S. 14) ist vermerkt, dass die Mitgliedschaft in verbotenen politischen Gruppierungen zu staatlichen Zwangsmaßnahmen führen kann. Zu diesen verbotenen Organisationen zählen unter anderem die Kurdenparteien (z.B. DPIK, Komalah). Den Lageberichten ist weiter zu entnehmen, dass es zunehmend Hinweise auf Diskriminierung von im Iran lebenden Kurden hinsichtlich ihrer kulturellen Eigenständigkeit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit in den Fällen gibt, in denen die Zentralregierung separatistische Tendenzen vermutet. Einzelne kurdische Gruppierungen, denen die Regierung separatistische Tendenzen unterstellt, stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte. Hierzu zählen insbesondere die marxistische Komalah-Partei und die Democratic Party of Iranian Kurdistan (DPIK bzw. DPKI). Diese werden von der Regierung als konterrevolutionäre und terroristische Gruppen betrachtet, die vom Irak aus das Regime bekämpfen. Festnahmen und Verurteilungen zu hohen Gefängnisstrafen einschließlich der Todesstrafe gegen mutmaßliche radikale Mitglieder kommen weiterhin vor. Weiter ist zu den exilpolitischen Tätigkeiten ausgeführt, dass davon auszugehen ist, dass die iranischen Stellen die im Ausland tätigen Oppositionsgruppen genau beobachten. Einer realen Gefährdung bei einer Rückkehr in den Iran setzen sich daher solche führenden Persönlichkeiten der Oppositionsgruppen aus, die öffentlich und öffentlichkeitswirksam (z.B. Redner, Verantwortliche oder leitende Funktionsträger) in Erscheinung treten und zum Sturz des Regimes aufrufen. Im Ausland lebende prominente Vertreter im Iran verbotener Oppositionsgruppen haben im Fall einer Rückführung mit sofortiger Inhaftierung zu rechnen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 9. Dezember 2015, Stand: November 2015, S. 24).

Das Österreichische Bundesamt für Fremdenwesen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Iran vom 14. Juli 2019, S. 13 f., 18 ff., 60 f.) führt aus, dass kurdische Gruppierungen aufgrund der unterstellten separatistischen Tendenzen im Zentrum der Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte stünden. Des Weiteren sei zu beobachten, dass Teilnehmer an irankritischen Demonstrationen bei späteren Besuchen im Iran seitens des Sicherheitsdienstes zu ihren Aktionen befragt würden. Eine Quelle berichte zwar, dass sie noch nie davon gehört hätte, dass eine Person nur aufgrund einer einzigen politischen Aktivität auf niedrigem Niveau, wie z.B. dem Verteilen von Flyern, angeklagt wurde. Andererseits sei es aber laut einer anderen Quelle schon möglich, dass man inhaftiert werde, wenn man mit politischem Material oder beim Anbringen von politischen Slogans an Wänden erwischt werde. Es sei jedoch festzustellen, dass vor allem Aktivitäten im Fokus stünden, die als Angriff auf das politische System empfunden würden und die islamischen Grundsätze in Frage stellten. [...]