OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 23.04.2021 - 10 LA 63/21 (Asylmagazin 6/2021, S. 226) - asyl.net: M29553
https://www.asyl.net/rsdb/m29553
Leitsatz:

Anhörung und Informationspflicht im Dublin-Verfahren auch ohne Asylantrag:

"Auch in den Fällen, in denen kein erneuter Antrag auf internationalen Schutz in Deutschland gestellt worden ist, ist mit dem Antragsteller ein persönliches Gespräch gemäß Art. 5 Abs. 1 Dublin III-Verordnung zu führen und ist er von der beabsichtigten Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß Art. 26 Abs. 1 Dublin III-Verordnung in Kenntnis zu setzen."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Dublin III-Verordnung, persönliches Gespräch, Aufgriffsfall,
Normen: VO 604/2013 Art. 5 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 26 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

6 Nach Art. 20 Abs. 1 Dublin III-Verordnung wird das im Kapitel VI der Dublin III-Verordnung geregelte Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird. Insofern wird in der Dublin III-Verordnung unterschieden zwischen dem Aufnahmeverfahren (Art. 21 ff. Dublin III-Verordnung) und dem Wiederaufnahmeverfahren (Art. 23 ff. Dublin III-Verordnung). Zu letzterer Verfahrensart gehören nach Art. 24 Dublin III-Verordnung auch die Fälle, in denen im ersuchenden Mitgliedstaat kein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist. Nach Art. 26 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-Verordnung, der zu den für beide Verfahren geltenden Verfahrensgarantien zählt, setzt der ersuchende Mitgliedstaat die betreffende Person von der Entscheidung in Kenntnis, sie in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, sowie gegebenenfalls auch von der Entscheidung, ihren Antrag auf internationalen Schutz nicht zu prüfen, wenn der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme oder Wiederaufnahme eines Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchstabe c oder d zugestimmt hat. Auch in den Fällen, in denen die betreffende Person keinen Antrag auf internationalen Schutz in Deutschland gestellt hat, geht es – wie hier – um die Wiederaufnahme eines Antragstellers im Sinne dieser Regelung, wenn die betreffende Person einen solchen Antrag in dem ersuchten Mitgliedstaat gestellt hat. Dass eine Antragstellung in Deutschland für die Anwendung des Art. 26 Dublin III-Verordnung nicht erforderlich ist, ergibt sich im Übrigen auch daraus, dass die betreffende Person nur "gegebenenfalls" auch von der Entscheidung, ihren Antrag auf internationalen Schutz nicht zu prüfen, in Kenntnis zu setzen ist. [...]

8 Art. 26 Dublin III-Verordnung ist demnach gemäß seinem klaren Wortlaut auch auf die sogenannten Aufgriffsfälle, in denen der Betroffene kein Asylgesuch in der Bundesrepublik Deutschland gestellt hat, anzuwenden. Im Übrigen ergeben sich auch aus Sinn und Zweck dieser Regelung und aus der Systematik der Verordnung keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese Regelung in diesen Fällen nicht zur Anwendung kommen soll, vielmehr spricht gerade die Systematik der Verordnung – wie oben ausgeführt – für obige Auslegung. Damit ist der erste Teil der von der Beklagten formulierten Frage beantwortet. [...]

10 Nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-Verordnung, der zu den im Kapitel II der Dublin III-Verordnung geregelten allgemeinen Grundsätzen und Schutzgarantien zählt, führt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern. Der Kläger ist nach dem oben Gesagten Antragsteller im Sinne der Dublin III-Verordnung, da er in Italien einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Auch wenn der Antragsteller in Deutschland keinen weiteren Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach den Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats des Kapitels III der Dublin III-Verordnung durchzuführen, was sich bereits klar aus dem Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-Verordnung ergibt, und sodann die Rücküberstellung im Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren (Kapitel VI) durchzuführen. Hier hat Italien seine Zuständigkeit aufgrund des Art. 12 Abs. 1 Dublin III-Verordnung erklärt. Dabei handelt es sich um eines der Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Folglich ist hier gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-Verordnung ein persönliches Gespräch mit dem Kläger als Antragsteller durchzuführen. Dass dieses Gespräch nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-Verordnung auch das richtige Verständnis der dem Antragsteller gemäß Art. 4 Dublin III-Verordnung bereitgestellten Informationen, die im Falle eines Antrags auf internationalen Schutz überreicht werden, ermöglichen soll, ändert nichts daran, dass unabhängig davon, ob der Antragsteller in Deutschland einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ein persönliches Gespräch mit ihm zu führen ist, sofern nicht einer der Ausnahmegründe des Art. 5 Abs. 2 Dublin III-Verordnung einschlägig ist, von denen hier offenbar keiner vorliegt. [...]