OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.04.2021 - 3 S 19/21 - asyl.net: M29574
https://www.asyl.net/rsdb/m29574
Leitsatz:

Botschaftsvorsprache bei unbeschiedenem Asylfolgeantrag im Einzelfall zumutbar:

1. Stellt eine Person einen Asylfolgeantrag, so ergibt sich hieraus nicht zwingend, dass bis zur Entscheidung über den Folgeantrag eine Kontaktaufnahme mit dem Herkunftsstaat unzumutbar ist.

2. Vielmehr ist in einer Einzelfallabwägung zu prüfen, ob die Grundrechte der betroffenen Person unzulässig beschränkt werden oder das Asylbegehren gefährdet ist. In die Abwägung ist auch das öffentliche Interesse an der Vorbereitung der Abschiebung miteinzubeziehen, das gesteigert sein kann, wenn die betroffene Person schon länger vollziehbar ausreisepflichtig ist oder erheblichen Straftaten begangen hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Passbeschaffung, Mitwirkungspflicht, Asylverfahren, Asylfolgeantrag, Zumutbarkeit, Abwägung, öffentliches Interesse, Botschaftsvorsprache, Auslandsvertretung, Botschaft,
Normen: AsylG § 64, AufenthG § 60b Abs. 2 S. 2, AufenthG § 15 Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 71 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

3 Ohne Erfolg macht der Antragsteller geltend, eine Vorsprache vor der guineischen Delegation sei ihm wegen des Folgeantrags nicht zumutbar. Hierzu beruft er sich auf die Vorschrift des § 60b Abs. 2 Satz 2 AufenthG, die zum Ausdruck bringe, dass Asylsuchenden eine Kontaktaufnahme mit dem Herkunftsstaat bis zum unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, d.h. nicht nur während der Inhaberschaft einer Aufenthaltsgestattung und unabhängig von den geltend gemachten Fluchtgründen, nicht zugemutet werden könne (BT-Drs. 19/10047 S. 38). Dabei handelt es sich um eine Ausnahmeregelung von der in § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestimmten besonderen Passbeschaffungspflicht. Dieser speziellen Vorschrift, die lediglich eine Duldung für Personen mit ungeklärter Identität betrifft, kann deshalb nicht entnommen werden, dass eine Anordnung zur Mitwirkung an der Passbeschaffung außerhalb dieses Regelungszusammenhangs nach Stellung eines Asylantrags, zumal eines – wie hier – nach bestandskräftigem Abschluss eines Asylverfahrens gestellten Folgeantrags, generell unzulässig ist. Ob eine Kontaktaufnahme mit Bediensteten des Heimatstaats in diesen Fällen zumutbar ist, muss vielmehr unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalles beurteilt werden. Maßgeblich ist insoweit, ob die angeordnete Mitwirkungshandlung die Grundrechte des Ausländers unzulässig beschränkt oder ihn selbst oder sein Asylbegehren gefährdet (vgl. zu § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG Hailbronner, AuslR, 1. Update März 2021, § 15 AsylG Rn. 35 ff.; Bergmann in: ders./Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 15 AsylG Rn. 11).

4 Hiervon ausgehend greift das Beschwerdevorbringen gegenüber der Erwägung des Verwaltungsgerichts nicht durch, soweit er sich mit dem Folgeantrag auf eine im Februar 2021 attestierte Hepatitis-B-Infektion berufe, betreffe dies gegebenenfalls ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG und stehe einer Vorsprache bei der Botschaft seines Heimatlandes nicht entgegen. Weshalb eine Kontaktaufnahme mit Bediensteten des Heimatstaats wegen der mit dem Folgeantrag geltend gemachten gesundheitlichen Gründe unzumutbar sein sollte, zeigt die Beschwerde nicht auf. Auch § 60b Abs. 2 Satz 2 AufenthG regelt eine Rückausnahme, wenn das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG allein auf gesundheitlichen Gründen beruht. Dass der Antragsgegner nicht die Vorsprache bei der Botschaft Guineas, sondern vor ermächtigten Bediensteten dieses Staates angeordnet hatte, ist in diesem Zusammenhang unerheblich.

5 Soweit der Folgeantrag mit der Gefahr einer Verfolgung wegen der Teilnahme an einer Demonstration vor der Botschaft Guineas begründet wird, hat das Verwaltungsgericht in erster Linie zugrunde gelegt, dass die Drei-Monats-Frist des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG, § 51 Abs. 3 VwVfG nicht eingehalten sei. Die Beschwerde zieht dies nicht erfolgreich in Zweifel. Sie stützt sich darauf, dass der Antragsteller erst im Dezember 2020 Kenntnis davon erhalten habe, dass verschiedene Videoaufnahmen von dem Vorfall im Internet kursierten. Dies wird indes in keiner Weise substanziiert und auch sonst nicht glaubhaft gemacht. [...]

7 Unabhängig davon legt die Beschwerde nicht nachvollziehbar dar, dass dem Antragsteller bei der Vorsprache vor Bediensteten seines Heimatlandes Nachteile drohen, aus denen in Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Vorbereitung seiner – nach Maßgabe des § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG vollziehbaren – Abschiebung die Unzumutbarkeit der ihm auferlegten Mitwirkung folgt. Die erkennbaren Umstände belegen ein deutlich gesteigertes öffentliches Interesse an der beabsichtigten Aufenthaltsbeendigung. Der nach eigener Angabe im Jahre 2014 nach Deutschland eingereiste Antragsteller ist bereits seit der im Januar 2018 bestandskräftig gewordenen Ablehnung seines Asyl(erst)antrags vollziehbar ausreisepflichtig, aber seitdem weder der Ausreisepflicht noch seiner Passpflicht nachgekommen und konnte wegen Passlosigkeit nicht abgeschoben werden. Zudem wurde er mit bestandskräftigem Bescheid vom 12. Juni 2020 aus der Bundesrepublik ausgewiesen, da er wiederholt, u.a. mit Betäubungsmitteldelikten, Körperverletzungsdelikten, Hausfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Sachbeschädigungsdelikten strafrechtlich in Erscheinung getreten sei und die Gefahr erneuter Straftaten bestehe. Die gerichtlich angewiesene Betreuung durch einen Betreuungshelfer habe den Antragsteller nicht von der Begehung schwerer Straftaten abgehalten. Durch seinen unbekannten Aufenthalt habe er sich strafrechtlichen und ausländerrechtlichen Maßnahmen entzogen. Er bewege sich nach wie vor im Drogenmilieu, gehe keiner Erwerbstätigkeit nach und verfüge weder über keine abgeschlossene Berufsausbildung noch einen festen Wohnsitz. Dem gegenüber zeigt die Beschwerde nicht auf, dass die Vorsprache für den Antragsteller voraussichtlich mit erheblichen Nachteilen verbunden wäre. Die unter Androhung von Zwangsmitteln auferlegte Mitwirkungshandlung kann nicht als Abrücken von seinem Asylvorbringen oder als Indiz für eine freiwillige Unterstellung unter den Schutz seines Heimatlandes gewertet werden, so dass von einer Gefährdung des mit dem Folgeantrag geltend gemachten Asylanspruchs auszugehen wäre (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 1. September 2020 – 13 ME 312/20 – juris Rn. 5; Hailbronner, AuslR, 1. Update März 2021, § 15 AsylG Rn. 45). Ebenso wenig legt die Beschwerde Anhaltspunkte dafür dar, dass die Vorsprache den Antragsteller im Hinblick auf die mit dem Antrag geltend gemachte Demonstrationsteilnahme (zusätzlich) gefährden könnte. [...]