VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 07.04.2021 - 22 K 7025/18.A - asyl.net: M29578
https://www.asyl.net/rsdb/m29578
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Asylsuchende aus Aserbaidschan wegen häuslicher Gewalt:

1. Der Klägerin ist die Flüchtlingsanerkennung zuzuerkennen, da sie von geschlechtsspezifischer Verfolgung durch ihren geschiedenen Mann bedroht ist.

2. Der aserbaidschanische Staat ist nicht dazu in der Lage, den betroffenen Frauen Schutz vor häuslicher und familiärer Gewalt zu bieten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aserbaidschan, häusliche Gewalt, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3d Abs. 2
Auszüge:

[...]

Unter Beachtung dieser Maßstäbe hat die Klägerin zu 1) in ihrem konkreten Einzelfall Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Gericht ist auf der Grundlage ihres Vortrags davon überzeugt, dass sie ihr Herkunftsland aus begründeter Furcht vor einer geschlechtsspezifischen Verfolgung durch ihren früheren Ehemann verlassen hat und sie im Falle einer Rückkehr hiervon weiterhin bedroht ist. Dabei kommt der Klägerin die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011 /95/EU zugute und das Gericht kann im Rahmen der freien Beweiswürdigung keine stichhaltigen Gründe für eine Widerlegung der dort geregelten Vermutung erkennen.

Unter Berücksichtigung ihres Herkommens, Bildungsstands und Alters hält das Gericht den Vortrag der Klägerin zu 1) - ebenso wie das Bundesamt - insgesamt für glaubhaft. Sie hat im Rahmen ihrer Anhörung beim Bundesamt in überzeugender Weise das Verfolgungsgeschehen ausführlich und detailreich geschildert. Das Gericht hat - ebenso wie das Bundesamt - keine Zweifel daran, dass die Klägerin zu 1) das von ihr geschilderte Geschehen tatsächlich erlebt hat. [...]

Häusliche Gewalt ist im Herkunftsland der Klägerin zu 1) weit verbreitet. Nach den Erkenntnissen des Lageberichts (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Aserbaidschan vom 17. November 2020, Stand: November 2020, S. 16 - im Folgenden: Lagebericht AA) garantiert Art. 25 Abs. 2 der Verfassung die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wie weiter ausgeführt wird, ist dieser Grundsatz (zwar) im Großraum Baku (geschätzt 2,7 bis 4,6 Millionen von 10,06 Millionen Gesamtbevölkerung) weitestgehend auch in der Praxis realisiert, während (jedoch) auf dem Land traditionelle Vorstellungen des Geschlechterverhältnisses vorkommen. Nach der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass der Herkunftsstaat derzeit nicht in der Lage ist, den betroffenen Frauen ausreichenden Schutz vor häuslicher oder familiärer Gewalt zu bieten. So wird im Lagebericht des Auswärtigen Amts ausgeführt, Frauen könnten im Fall von Vergewaltigungen innerhalb der Ehe nicht darauf vertrauen, dass die Sicherheitsorgane sie schützen und Ermittlungen aufnehmen würden (vgl. Lagebericht AA S. 16). Die Klägerin hat insoweit auch vorgetragen, sich mehrfach erfolglos an die Polizei gewandt zu haben. Dabei sei jedoch nichts herausgekommen. Von einem ausreichenden Zugang zu einem wirksamen staatlichen Schutz im Sinne von § 3d Abs. 2 AsylG kann daher im Fall der Klägerin zu 1) nicht ausgegangen werden.

Als vorverfolgt ausgereist ist die Klägerin zu 1) im Falle einer Rückkehr nach Aserbaidschan von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG bedroht. Insoweit kommt ihr die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute. Stichhaltige Gründe nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU dagegen, dass die Klägerin zu 1) erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wird, bestehen nicht. [...]