OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 14.12.2020 - 6 Bf 240/20.AZ - asyl.net: M29585
https://www.asyl.net/rsdb/m29585
Leitsatz:

Voraussetzungen für die Zuerkennung von Familienasyl:

"Voraussetzung für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 2 AsylG ist nicht, dass das minderjährige ledige Kind eines als Flüchtling anerkannten Elternteils im Zeitpunkt seiner Asylantragstellung mit dem stammberechtigten Elternteil in einer familiären Lebensgemeinschaft lebt."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Familienschutz, Familienflüchtlingsschutz, Kind, familiäre Lebensgemeinschaft,
Normen: AsylG § 26 Abs. 5, AsylG § 26 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

13 Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass Voraussetzung für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 2 AsylG nicht ist, dass ein minderjähriges Kind eines als Flüchtling anerkannten Elternteils, das im Verfolgerland und nach seiner Einreise in das Bundesgebiet mit dem stammberechtigten Elternteil in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, auch noch im Zeitpunkt der Asylantragstellung - allein letzteres ist vorliegend fraglich – mit dem stammberechtigten Elternteil in einer familiären Lebensgemeinschaft lebt.

14 1. Für dieses Verständnis der maßgeblichen Regelungen spricht zunächst der Wortlaut von § 26 Abs. 2 AsylG. Danach wird ein zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten auf Antrag als asylberechtigt anerkannt, wenn die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG wird diese Regelung auf Familienangehörige von international Schutzberechtigten entsprechend angewendet, wobei an die Stelle der Asylberechtigung die Flüchtlingseigenschaft bzw. der subsidiäre Schutzstatus tritt. Das Bestehen oder Fortbestehen einer familiären Lebensgemeinschaft mit dem stammberechtigten Flüchtling ist nach dem Wortlaut nicht Voraussetzung einer Zuerkennung des (Familien-)Flüchtlingsschutzes. Ob der Wortlaut noch als offen für eine Auslegung im Sinne der Beklagten angesehen werden kann, kann dahinstehen. Jedenfalls die systematische, historische und teleologische Auslegung sprechen eindeutig gegen eine erweiternde Auslegung im Sinne der Beklagten.

15 2. Gegen die von der Beklagten vertretene, den Anwendungsbereich einschränkende Auslegung spricht in systematischer Hinsicht, dass in § 26 Abs. 2 i.V.m. Abs. 5 AsylG eine § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 5 AsylG und § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 5 AsylG entsprechende Regelung, fehlt.

16 Gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG wird der Ehegatte oder Lebenspartner eines Asylberechtigten auf Antrag als Asylberechtigter anerkannt, wenn "die Ehe oder Lebenspartnerschaft" "schon" in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird; die Regelung ist auf den Ehegatten oder Lebenspartner von international Schutzberechtigten gemäß § 26 Abs. 5 AsylG entsprechend anzuwenden. Eine entsprechende Regelung findet sich in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG. Danach ist auch für die Ableitung eines Anspruchs auf Zuerkennung einer Asylberechtigung bzw. eines internationalen Schutzstatus von der Asylberechtigung bzw. vom internationalen Schutzstatus ihres minderjährigen ledigen Kindes nicht - wie in § 26 Abs. 2 AsylG - nur Voraussetzung, dass dessen Asylberechtigung bzw. internationaler Schutzstatus unanfechtbar und nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Vielmehr ist auch gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG zusätzlich erforderlich, dass die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU "schon" in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird. Der Senat unterstellt zugunsten der Beklagten, dass aus der Regelung, dass die "Familie" bzw. die "Ehe oder die Lebenspartnerschaft" "schon" in dem Staat bestanden haben muss, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird, zugleich abzuleiten ist, dass eine familiäre Lebensgemeinschaft im Verfolgerstaat bestanden haben und im Bundesgebiet noch bestehen muss (vgl. zum Bestehen der "Ehe" im Verfolgerstaat: BVerwG, Urt. v. 15.12.1992, 9 C 61.91, InfAuslR 1993, 327, juris Rn. 7; vgl. zum fehlenden Erfordernis des Zusammenlebens des minderjährigen Kindes mit dem stammberechtigten Elternteil im Verfolgerstaat bei Geburt des Kindes im Bundesgebiet: VGH Mannheim, Urt. v. 16.5.2002, A 13 S 1068/01, AuAS 2002, 224, juris Rn. 17 ff.).

17 Eine § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG entsprechende Regelung fehlt gerade in § 26 Abs. 2 AsylG. Die Regelungen in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG zeigen dabei, dass der Gesetzgeber diese Frage bei Normierung der verschiedenen Fallkonstellationen des Familienasyls bzw. Familienschutzes in den Blick genommen hat. Das Fehlen entsprechender weiterer Voraussetzungen für die in § 26 Abs. 2 AsylG geregelte Fallkonstellation lässt daher in systematischer Hinsicht nur den Schluss zu, dass der Gesetzgeber in Bezug auf die Ableitung der Asylberechtigung bzw. des internationalen Schutzstatus eines minderjährigen ledigen Kindes von einem stammberechtigten Elternteil hierauf bewusst verzichtet bzw. sich davon für diese Fallkonstellation abgewendet hat.

18 3. Entgegen der Auffassung der Beklagten ergeben sich gegenteilige Anhaltspunkte auch nicht aus der Gesetzeshistorie. [...]

24 Anders als die Beklagte geltend macht, spricht daher nicht nur der Wortlaut, sondern auch die Gesetzeshistorie dafür, dass sich der Gesetzgeber jedenfalls von dem zunächst für die Gewährung von Familienasyl bestehenden Leitbild einer noch bestehenden Lebensgemeinschaft zwischen dem minderjährigen ledigen Kind und dem Stammberechtigten gelöst hat. Dieses Leitbild hat der Gesetzgeber vielmehr schon mit dem am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz zugunsten eines einheitlichen Rechtsstatus des Stammberechtigten und seiner minderjährigen Kinder aufgegeben. [...]

25 4. Schließlich sprechen auch Sinn und Zweck der Regelung dafür, dass eine familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem minderjährigen Kind und dem i.S.d. § 26 Abs. 2 AsylG Stammberechtigten nicht zwingend bei Beantragung der Rechtsstellung aus § 26 AsylG bestehen muss. [...]

26 Dafür, dass eine besondere Verletzlichkeit von Familienangehörigen, in Fallkonstellationen, in denen eine Sippenhaft droht, regelmäßig nur gegeben ist, wenn das minderjährige Kind noch im Haushalt des Stammberechtigten lebt, bestehen weder Anhaltspunkte noch "liegt eine relevante Gefährdung" für ein nicht im Haushalt des Stammberechtigten lebendes minderjähriges Kind "fern", wie die Beklagte vorträgt. Anknüpfungspunkt für die Verfolgung von Familienangehörigen im Rahmen einer Sippenhaft dürfte vielmehr primär die emotionale Nähe des Stammberechtigten zu seinen minderjährigen Kindern und gerade die besondere Verletzlichkeit von Kindern sein, deren mögliche Verfolgung den Stammberechtigten treffen und im Sinne der ihn verfolgenden Akteure beeinflussen soll. [...]