OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 18.03.2021 - 8 ME 146/20 - asyl.net: M29587
https://www.asyl.net/rsdb/m29587
Leitsatz:

1. Zur verfahrensbegleitenden Nachbesserung einer nach zwischenzeitlicher Veränderung der Tatsachen­grundlagen fehlerhaften Ermessensentscheidung.

2. Der Prognose des Strafgerichts nach § 68f Abs. 2 StGB zum Grad der Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit kommt indizielle Bedeutung zu, so dass es einer substantiierten Begründung bedarf, wenn die Ausländerbehörde von der strafgerichtlichen Einschätzung abweichen will.

3. Das Abänderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO bildet mit dem Ausgangsverfahren kostenrechtlich keine Einheit, wenn gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Beschwerde bei dem Oberverwal­tungsgericht erhoben wird, so dass eine Streitwertfestsetzung nicht entbehrlich ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Straftat, Ausweisung, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Änderung der Sachlage, terroristische Vereinigung, Ermessen, Änderung der Sachlage, Beurteilungszeitpunkt,
Normen: VwGO § 80 Abs. 7, StGB § 68f Abs. 2, AufenthG § 11 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

13 aa) Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die (ursprüngliche) Begründung der Ermessenserwägungen für das von der Antragsgegnerin in der Verfügung vom 4. Juli 2018 verhängte Einreise- und Aufenthaltsverbots diesen rechtlichen Anforderungen nicht (mehr) genügt. Seit ihrem Erlass sind wesentliche Veränderungen in den Tatsachengrundlagen eingetreten, die bei der – nach nunmehriger Gesetzeslage von der Behörde anzuordnenden – Anordnung und Befristung nach § 11 AufenthG zu berücksichtigen sind. [...]

14 aaa) Die Zugrundelegung einer überholten und damit unzutreffende Tatsachengrundlage führt zunächst zu einer Fehlgewichtung der von der Antragsgegnerin in ihre Ermessensabwägung eingestellten Gesichtspunkte. [...]

16 bb) Der von der Antragsgegnerin im gerichtlichen Verfahren unternommene Versuch einer Nachbesserung ihrer inhaltlich überholten Ermessensentscheidung vom 4. Juli 2018 ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich zulässig und möglich (§ 114 Satz 2 VwGO; vgl. BVerwG, Urt. v. 22.2.2017 – 1 C 27/16 –, juris Rn. 18ff.; Urt. v. 15.11.2007 – 1 C 45/06 –, juris Rn. 21; Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 56. Edition Stand 01.01.2021, § 114 Rn. 45). [...]

21 cc) Unabhängig davon erscheint zweifelhaft, ob die im gerichtlichen Verfahren nachgeschobenen Ausführungen der Antragsgegnerin den nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an Form und Handhabung derartiger Ergänzungen von Ermessenserwägungen zu stellenden formalen Anforderungen genügen könnten (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.12.2011 – 1 C 14/10 –, juris Rn. 9f., 18 m.w.N.). Ob ein Nachschieben von Ermessenserwägungen zulässig ist, bestimmt sich nach dem materiellen Recht und dem Verwaltungsverfahrensrecht, namentlich § 40 VwVfG; § 114 Satz 2 VwGO regelt, unter welchen Voraussetzungen derart veränderte Ermessenserwägungen im Prozess zu berücksichtigen sind (BVerwG, Urt. v. 20.6.2013 – 8 C 46/12 –, juris Rn. 31; Bader u.a., VwGO, 7. Aufl. 2018, § 114 VwGO Rn. 53ff.). Es genügt nicht, dass die Behörde bei einer nachträglichen Änderung der Sachlage im gerichtlichen Verfahren neue Ermessenserwägungen geltend macht. Sie muss im gerichtlichen Verfahren erkennbar trennen zwischen neuen Begründungselementen, die den Inhalt ihrer Entscheidung betreffen, und Ausführungen, mit denen sie lediglich als Prozesspartei ihre Entscheidung verteidigt; Zweifel und Unklarheiten über Inhalt und Umfang nachträglicher Ergänzungen gehen zu Lasten der Behörde (BVerwG, Urt. v. 13.12.2011 – 1 C 14/10 –, juris Rn. 18). Außerdem muss deutlich werden, welche der bisherigen Erwägungen weiterhin aufrechterhalten und welche durch die neuen Erwägungen gegenstandslos werden (BVerwG, Urte. v. 20.6.2013 – 8 C 46/12 –, juris Rn. 35 u. v. 13.12.2011 – 1 C 14/10 –, juris Rn. 18). [...]

25 Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und Nrn. 1.5 und 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11). Einen Streitwert festzusetzen, ist nicht deshalb entbehrlich, weil lediglich eine Festgebühr nach Nummer 5502 des Kostenverzeichnisses der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG anfällt. Nach Vorbemerkung 5.2 Abs. 2 Satz 2 des Kostenverzeichnisses gelten mehrere Verfahren nach § 80 Abs. 5 und 7 VwGO (nur) innerhalb eines Rechtszuges als ein Verfahren, so dass das Abänderungsverfahren mit dem Ausgangsverfahren kostenrechtlich keine Einheit bildet, wenn – wie hier – gegen einen Beschluss in einem erstinstanzlichen Abänderungsverfahren vor dem Verwaltungsgericht Beschwerde bei dem Oberverwaltungsgericht erhoben wird. In einem solchen Fall ist vielmehr die – streitwertabhängige – Verfahrensgebühr nach Nummer 5240 Kostenverzeichnis zu erheben. [...]