VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13.01.2021 - 9 A 25/19 - asyl.net: M29601
https://www.asyl.net/rsdb/m29601
Leitsatz:

Keine Einbürgerung unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit für eine politisch aktive US-Bürgerin jüdischer Herkunft:

1. Der Verlust des Wahlrechts und des Rechts auf visumsfreie Einreise in die USA bedeutet keine unzumutbare Härte, auch nicht bei einer politisch besonders aktiven Frau.

2. Gewissenskonflikte gegenüber der eigenen Verwandtschaft und einer ethnischen/religiösen Gruppe stellen keine besonders schwierigen Bedingungen dar, auch nicht bei einer Frau jüdischer Herkunft.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Einbürgerung, Ermessenseinbürgerung, Aufgabe der Staatsangehörigkeit, Hinnahme von Mehrstaatigkeit, besonders schwierige Bedingungen,
Normen: StAG § 12 Abs. 1 S. 1, § 12 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

49 Der Gesetzgeber geht – wie sich aus der Regelung in § 10 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 4 StAG ergibt –, davon aus, dass Mehrstaatigkeit grundsätzlich vermieden bzw. eine begrenzte Ausnahme bleiben soll, auch wenn die früher vertretene Auffassung des "unerwünschten Übels" (BVerfG, Beschluss vom 16. September 1990 – 2 BvR 1864/88, Rn. 3, juris) nicht mehr in dieser Rigorosität gilt; verfassungsrechtlich ist dies unbedenklich (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Mai 2019 – 1 B 20.19, Rn. 7, juris; VGH Mannheim, Urteil vom 19. Dezember 2018 – 12 S 996/18, Rn. 20, juris). Der Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit findet seinen Grund u. a. in dem Bedürfnis nach klarer Zuordnung von Personen unter das Rechts- und Schutzregime eines Staates und in dem Bestreben Rechtsanwendungskonflikte zu vermeiden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Mai 2019 – 1 B 29.19 –, Rn. 8, juris). [...]

51 Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 StAG wird von der Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 abgesehen, wenn der Ausländer seine bisherige Staatsangehörigkeit nicht oder nur unter besonders schwierigen Bedingungen aufgeben kann. Dies ist nach Satz 2 Ziff. 5 der Norm u. a. anzunehmen, wenn dem Ausländer bei Aufgabe der ausländischen Staatsangehörigkeit erhebliche Nachteile insbesondere wirtschaftlicher oder vermögensrechtlicher Art entstehen würden, die über den Verlust der staatsbürgerlichen Rechte hinausgehen.

52 Die von der Klägerin geltend gemachten Nachteile bei Aufgabe der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft sind hierunter nicht zu fassen.

53 Ausgeschlossen sind von vornherein schon nach dem Wortlaut des § 12 Abs. 1 Satz 2 Ziff. 5 StAG solche Nachteile, die sich auf den Verlust der staatsbürgerlichen Rechte beschränken wie etwa die visumfreie Einreise und den genehmigungsfreien Aufenthalt, das aktive und passive Wahlrecht und sonstige Formen der an die Staatsangehörigkeit geknüpften Mitwirkung bei der staatlichen oder kommunalen Willensbildung (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2010 – 5 C 9.10, Rn. 30, juris; VGH Mannheim Urteil vom 19. Dezember 2018 – 12 S 996/18, Rn. 30, juris).

54 Im Übrigen ist die Norm in ihrem Anwendungsbereich zwar nach dem Wortlaut nicht auf Nachteile wirtschaftlicher oder vermögensrechtlicher Art beschränkt, vielmehr können auch ideelle Nachteile berücksichtigenswert sein. Aus der Hervorhebung der objektiv erkennbaren wirtschaftlichen oder vermögensrechtlichen Nachteile ergibt sich allerdings, dass auch bei immateriellen Beeinträchtigungen nur solche beachtlich sind, die objektiv entstehen und zu gewichten sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2010 – 5 C 9.10-, Rn. 30, juris, und Beschluss vom 14. Mai 2019 – 1 B 29.19 –, Rn. 18, juris; OVG Münster, Urteil vom 26. Juli 2016 – 19 A 630/14 –, Rn. 63, juris; Sachsenmaier, HTK-StAR, Stand Januar 2021, § 12 StAG, zu Abs. 1 Satz 2 Nr. 5, Rn. 3, m. w. N.). Zu beachten ist daher, dass sich ausschließlich subjektiv definierte Nachteile einer an objektiven Kriterien orientierten Gewichtung grundsätzlich entziehen.

55 Als grundsätzlich nicht im Rahmen des § 12 Abs. 1 Satz 2 Ziff. 5 StAG berücksichtigungsfähig sind auf Grundlage dieser Maßstäbe, denen sich die erkennende Einzelrichterin anschließt, daher z. B. die besondere Bindung an die ausländische Staatsangehörigkeit bzw. die Schwierigkeit, die eigenen Wurzeln verleugnen zu müssen. Denn hierbei handelt es sich um immaterielle Nachteile, die untrennbar mit dem Verlust der bisherigen Staatsangehörigkeit verbunden sind und deren Entstehung sowie Gewichtung allein  von der subjektiven Bewertung des Einbürgerungsbewerbers abhängen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2010 – 5 C 9.10 –, Rn. 30 und 36, juris, und Beschluss vom 14. Mai 2019 – 1 B 29.9 –, Rn. 16 ff., juris; VGH Mannheim, Urteil vom 19. Dezember 2018 – 12 S 996/18 –, Rn. 33, juris; OVG Münster, Urteil vom 26. November 2009 – 19 A 1448/07 –, Rn. 69, juris). Hiervon ist auch in äußerst gewichtigen Ausnahmefällen nicht abzusehen, weil der Wortlaut der Norm insoweit eindeutig ist und diese Ausnahmefälle sodann entweder unter § 12 Abs. 1 Satz 1 StAG gefasst werden können, soweit man diese als Generalklausel ansieht (hierzu s. u.), oder zumindest im Ermessenswege bei der Prüfung der Ermessenseinbürgerung nach § 8 StAG zu berücksichtigen sein können, so dass keine Regelungslücke entsteht.

56 Aus den selben wie den eben genannten Gründen sind außerdem im Rahmen des § 12 Abs. 1 Satz 2 Ziff. 5 StAG psychosoziale Nachteile wie etwa familiäre Spannungen und Ansehensverlust nicht  berücksichtigungsfähig (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 19. Dezember 2018 – 12 S 996/18 –, Rn. 33, juris; Sachsenmaier, HTK-StAR, Stand Januar 2021, § 12 StAG, zu Abs. 1 Satz 2 Nr. 5, Rn. 59, m. w. N.).

57 Schließlich ist eine geltend gemachte "Gruppenbetroffenheit" ebenso nicht berücksichtigungsfähig, weil die Regelung in § 12 Abs. 1 Satz 2 Ziff. 5 StAG nicht an die Zugehörigkeit zu einer Gruppe anknüpft, sondern an die konkrete Person des Einbürgerungsbewerbers (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 19. Dezember 2018 – 12 S 996/18 –, Rn. 35, juris). [...]

63 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem von der Klägerin geltend gemachten Gewissenskonflikt. [...]

66 Die Freiheit dieses Gewissen wird auch in Art. 4 Abs. 1 Grundgesetz geschützt und ist stets betroffen, wenn eine ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von "gut" und "böse" orientierte Entscheidung in Rede steht, die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte. Bloße Skrupel oder Bedenken genügen nicht. Objektive Nachvollziehbarkeit, rationelle Verstehbarkeit sind nicht erforderlich. Das "Ob" eines Gewissenskonflikts unterliegt zwar keiner Kontrolle, aber das "Wie" und das "Warum" müssen plausibel sein. Die Gewissensfreiheit schützt auch das forum externum – also ein Tun und Unterlassen am eigenen Gewissen orientiert, so dass von der öffentlichen Gewalt kein Zwang ausgehen darf, wider dem eigenen Gewissen zu handeln (vgl. zu alldem: VGH Mannheim, Urteil vom 19. Dezember 2018 – 12 S 996/18 –, Rn. 37 f., juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 1. März 2017 – 4 K 2840/16 –, Rn. 36 ff., juris; jeweils m. w. N.).

67 Nach diesen Maßstäben kann – wie gezeigt – davon ausgegangen werden, dass die Klägerin einen Gewissenskonflikt in sich trägt, der ihr die freie Entscheidung zur Aufgabe der US-amerikanischen Staatsangehörigkeit unmöglich macht.

68 Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich die erkennende Einzelrichterin anschließt, ist aber das Vorliegen eines Gewissensnotstandes allein nicht geeignet, einen "außergewöhnlichen Umstand" im Sinne des § 12 Abs. 1 Satz 1 StAG zu begründen, weil dieser Gewissensnotstand zumindest für die Gewichtung mit den Gründen in Beziehung zu setzen ist, welche die Entscheidung für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit prägen. Relevant können an diesem Punkt also nur "außergewöhnliche" Gewissensnöte werden, die im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu werten sind. Das Erfordernis der Außergewöhnlichkeit ergibt sich außerdem aus der o. g. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach immaterielle Beeinträchtigungen, die nicht objektiv entstehen und zu gewichten sind, allenfalls unter "außergewöhnlichen" Umständen Berücksichtigung finden könne. Hierbei ist auch zu beachten, dass das den objektivrechtlichen Gehalten des Art. 4 Abs. 1 GG folgende staatliche "Wohlwollensgebot" gegenüber demjenigen, der sich auf Art. 4 Abs. 1 GG beruft, nicht grenzenlos ist und insbesondere nicht das Recht umfasst, die Rechtsordnung nur nach den eigenen Glaubens- und Gewissensvorstellungen zu gestalten, oder zu verlangen, dass seine Überzeugung zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen oder ihrer Anwendung gemacht wird (vgl. zu alldem: BVerwG, Beschluss vom 14. Mai 2019 – 1 B 29.19 –, Rn. 24, juris; VGH Mannheim, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 12 S 996/18 –, Rn. 40 f., juris). Wegen der höchst persönlichen und höchst individuellen Prägung des Gewissens muss die "besonders schwerwiegende Bedingung" in § 12 Abs. 1 Satz 1 StAG aufgrund von Gewissenskonflikten daher restriktiv gehandhabt werden, um Rechtsklarheit zu schaffen und einer Auflösung der Rechtsordnung durch Gewissensvorbehalte entgegenzuwirken. [...]