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VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 20.04.2021 - 1 K 3510/20.TR - asyl.net: M29606
https://www.asyl.net/rsdb/m29606
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen syrischen Deserteur:

1. Es bestehen weiterhin erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass das syrische Regime und seine Verbündeten systematisch Kriegsverbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 AsylG begehen.

2. Deserteuren drohen Inhaftierung, Folter und Exekution und mithin eine erheblich härtere Bestrafung als einfachen Wehrdienstverweigerern.

3. Deserteure werden oftmals mit Anhängern der Opposition gleichgesetzt, so dass die vom Europäischen Gerichtshof aufgestellte Vermutung für einen Zusammenhang zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund nicht widerlegt, sondern bestätigt ist. 

(Leitsätze der Redaktion)

 

Schlagwörter: Syrien, Upgrade-Klage, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Verfolgungsgrund, politische Verfolgung, Asylrelevanz, Verknüpfung, Verfolgungshandlung, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Wehrdienstverweigerung, EuGH, EZ gg. Deutschland, EZ, Desertion, Aufstockungsklage, Deserteur,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 2 Bst. e, RL 2011/95/EU Art. 10, RL 2011/95/EU Art. 12, AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3b,
Auszüge:

[...]

b. Dem Kläger droht als Deserteur - anders als einem einfachen Wehrdienstentzieher (vgl. VG Trier, Urteil vom 20. April 2021 - 1 K 3528/20.TR -, zur Veröffentlichung vorgesehen) - im Falle seiner hypothetischen Rückkehr nach Syrien eine Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG und Art. 9 Abs. 2 lit. e) QRL.

(1) Durch seine Fahnenflucht hat der Kläger den Wehrdienst in einem Konflikt verweigert, der Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die Ausschlusstatbestände des § 3 Abs. 2 AsylG erfüllen.

Nach Auswertung der aktuellen Lageberichte bestehen weiterhin erhebliche Anhaltspunkte für die systematische Begehung von Kriegsverbrechen, insbesondere durch das syrische Regime und seine Verbündeten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, [Stand: November 2020], 4. Dezember 2020, S. 8 und 16; UK Home Office, Country Policy and Information Note - Syria: the Syrian Civil War, 10. August 2020, S. 31ff.). Diese finden aktuell vornehmlich in der letzten von Rebellen besetzten Region Idlib und Hama im Nordwesten Syriens sowie im nördlichen Teil Aleppos statt und beinhalten gezielte Angriffe auf zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, Schulen und Märkte sowie die Verwendung von Streumunition und chemischen Waffen in dicht besiedelten Gebieten (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note - Syria: the Syrian Civil War, 10. August 2020, S. 31ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, [Stand: November 2020], 4. Dezember 2020, S. 8; Amnesty International, Syria 2020, 7. April 2021).

Wenngleich sich die Möglichkeit, an diesen Kriegsverbrechen beteiligt zu sein, daher auf den Einsatz in den wenigen verbliebenen Kampfgebieten im Nordwesten Syriens beschränkt, muss jeder Militärangehörige, unabhängig von seinem Rang, seiner Erfahrung, seinem religiösen Hintergrund oder Herkunft damit rechnen, irgendwann an die Front versetzt zu werden (vgl. Danish Immigration Service, Syria - Military Service, Mai 2020, S. 13). Darüber hinaus hat die syrische Armee in den letzten Jahren damit begonnen, ihre Einheiten zu rotieren, sodass auch solche Soldaten, die bislang weit weg von den Frontlinien ihren Dienst verrichtet haben, nunmehr keine Garantie (mehr) haben, nicht an die Front versetzt zu werden (vgl. Danish Immigration Service, Syria - Military Service, Mai 2020, S. 13 f.). Dies kann im Einzelfall nur durch sehr gute Verbindungen innerhalb des Militärs und die Zahlung von Bestechungsgeldern verhindert werden. In gleichem Maße laufen auch Wehrdienstleistende, Wehrdienstverweigerer und Deserteure Gefahr an die Frontlinien versetzt zu werden (vgl. Danish Immigration Service, Syria - Military Service, Mai 2020, S. 13 f., 31 f.; European Asylum Support Office, Syria - Targeting of Individuals, März 2020, S. 37; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion", 23. März 2017, S. 10).

Soweit einige Gerichte die systematische Begehung von Kriegsverbrechen angesichts der weitreichenden Gebietsgewinne des syrischen Regimes und der wenigen verbleibenden Kampfgebiete verneinten (vgl. NiedersOVG, Beschluss vom 16. Juli 2020 - 2 LB 39/20 -, juris Rn. 55; BayVGH, Beschluss vom 30. Januar 2020 - 20 B 19.32952 -, juris Rn. 33), schließt sich die Kammer dieser Einschätzung angesichts der vorstehenden Erkenntnisse und der seither ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht an. [...]

Deserteure werden nach den vorliegenden Erkenntnismitteln auch faktisch härter bestraft als einfache Wehrdienstverweigerer und gehören zu der Gruppe, deren Mitglieder am wahrscheinlichsten Opfer von Inhaftierung, Folter und Exekution werden. Anders als bei einfachen Wehrdienstverweigerern (vgl. hierzu VG Trier, Urteil vom 20. April 2021 - 1 K 3528/20.TR -, zur Veröffentlichung vorgesehen) werden bei Fahnenflüchtigen die gesetzlich vorgesehenen Strafen auch regelmäßig tatsächlich verhängt. Dabei reichen die verhängten Sanktionen von einer Haftstrafe mit anschließender Einziehung zum Militärdienst bis zur Exekution (vgl. European Asylum Support Office, Syria Military Service - Country of Origin Information Report, April 2021, S. 36, unter Verweis auf: Danish Immigration Service, "Syria Military Service", Mai 2020, S. 33). Die Umsetzung der drohenden Bestrafungen erfolgt willkürlich. In Einzelfällen soll es Deserteuren zwar auch möglich gewesen sein, eine Bestrafung gänzlich zu vermeiden, wenn sie "ihre Angelegenheit mit der Regierung geregelt haben", was jedenfalls die Wiedereinschreibung zum Militärdienst voraussetze. Gleichwohl sind auch aktuell Fälle bekannt, in denen Deserteure und Überläufer verhaftet, gefoltert und exekutiert worden sind, obwohl sie ihre Angelegenheiten mit dem syrischen Regime geregelt hatten (vgl. UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic - Update VI, März 2021, S. 126 f.; Danish Immigration Service, Syria Military Service, Mai 2020, S. 34).

c. Zwischen der vorstehend genannten Verfolgungshandlung und den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen besteht auch die gemäß § 3a Abs. 3 AsylG und Art. 9 Abs. 3 QRL erforderliche Verknüpfung. Dem Kläger wird im Falle seiner hypothetischen Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politisch oppositionelle Haltung durch die Regierung zugeschrieben werden. Die durch den Europäischen Gerichtshof aufgestellte Vermutung, dass die Bestrafung wegen einer Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. e) QRL genannten Voraussetzungen mit einem der denkbaren Verfolgungsgründe in Zusammenhang steht, wird durch die Erkenntnismittellage nicht widerlegt, sondern im Gegenteil bestätigt.

(1) Nach den aktuell verfügbaren Erkenntnisquellen droht tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegungen weiterhin die konkrete Gefahr der willkürlichen Inhaftierung zu menschenunwürdigen Bedingungen und der Misshandlung bis hin zur Folter und der willkürlichen Tötung (vgl. UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic - Update VI, März 2021, S. 95; Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien“, 4. Dezember 2020, S. 12; European Asylum Support Office, Country of Origin Report on Syria: Targeting of Individuals, März 2020, S. 14 ff.; siehe auch bereits: VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 - 1 K 5093/16.TR -, juris, m.w.N.).

Deserteure werden oftmals mit Anhängern der Opposition gleichgesetzt (vgl. European Asylum Support Office, Country of Origin Report on Syria: Targeting of Individuals, März 2020, S. 37). Zur Verfolgung von Deserteuren bedient sich das syrische Regime nicht ausschließlich des hierfür vorgesehenen Military Penal Code, sondern wendet auch die sogenannte "Anti-Terror-Gesetzgebung" aus dem Jahr 2012 an (vgl. European Asylum Support Office, Syria Military service - Country of Origin Information Report, April 2021, S. 36, unter Verweis auf: Danish Immigration Sevice, "Syria Military Service", Mai 2020, S. 33), was ebenfalls erheblich dafür spricht, dass die Bestrafung von Deserteuren jedenfalls auch aufgrund einer (unterstellten) regimekritischen Haltung des Betroffenen erfolgt. [...]

Sofern einzelne Gerichte in jüngerer Zeit eine Unterscheidung zwischen einfacher Wehrdienstentziehung und Desertion nicht (mehr) zu treffen vermögen, da die letztgenannte Personengruppen ausweislich der Erkenntnismittel gleichbehandelt werde und die zu Beginn des Konfliktes herrschende Praxis, Deserteure härter zu bestrafen als Wehrdienstentzieher, aktuell nicht bestätigt werden könne (vgl. etwa NiedersOVG, Beschluss vom 31. August 2020 - 2 LB 674/18 -, juris) kann dem unter Zugrundelegung der dargestellten aktuellen Auskunftslage, insbesondere der Berichte des European Asylum Support Office und des Danish Imigration Service, nicht gefolgt werden. [...]