EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 29.10.2020 - C-243/19 A gg. Lettland - asyl.net: M29612
https://www.asyl.net/rsdb/m29612
Leitsatz:

Kostentragung durch Krankenkasse bei grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung:

Verpflichtung zur Übernahme von Kosten für die medizinische Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat durch die Krankenversicherung im Wohnsitzstaat, wenn die Behandlung im Wohnsitzstaat aus religiösen Gründen, aber ohne medizinische Rechtfertigung abgelehnt wird (Herzoperation für das Kind eines Zeugen Jehovas, der in Lettland lebt, sein Kind aber in Polen operieren lassen möchte, weil die OP dort anders als in Lettland ohne Bluttransfusion möglich ist), es sei denn, die Verweigerung der Kostenübernahme ist objektiv durch das legitime Ziel gerechtfertigt, einen bestimmten Umfang der medizinischen und pflegerischen Versorgung zu erhalten und stellt ein geeignetes und erforderliches Mittel dar, dieses Ziel zu erreichen. Dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: medizinische Versorgung, Behandlungskosten, Krankenversicherung, Unionsrecht, Lettland, Polen, A gg. Lettland, Operation, Bluttransfusion,
Normen: VO Nr. 883/2004 Art. 20 Abs. 2, GR-Charta Art. 21 Abs. 1, AEUV Art. 56, RL 2011/24 Art. 8 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

28 Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die erforderliche Genehmigung nicht verweigert werden darf, wenn die gleiche oder eine ebenso wirksame Behandlung in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der Betroffene wohnt, nicht rechtzeitig erlangt werden kann (Urteil vom 9. Oktober 2014, Petru, C-268/13, EU:C:2014:2271, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). [...]

31 Im vorliegenden Fall steht fest, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Operation unter Berücksichtigung der Prüfung des Gesundheitszustands des Sohnes des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens und der vorhersehbaren Entwicklung seiner Krankheit erforderlich war, um eine irreversible Verschlechterung der Vitalfunktionen oder seines Gesundheitszustands zu vermeiden. Zudem konnte diese Operation in Lettland mit Hilfe einer Bluttransfusion durchgeführt werden, und es gab keinen medizinischen Grund, der es rechtfertigte, auf eine andere Behandlungsmethode zurückzugreifen. Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens lehnte eine solche Transfusion allein wegen seiner entgegenstehenden religiösen Überzeugungen ab und wünschte, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Operation ohne Transfusion durchgeführt werde, was in Lettland nicht möglich war. [...]

36 Außerdem hat das Verbot jeder Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts zwingenden Charakter. Dieses in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegte Verbot verleiht schon für sich allein dem Einzelnen ein Recht, das er in einem Rechtsstreit, der einen vom Unionsrecht erfassten Bereich betrifft, als solches geltend machen kann (Urteile vom 17. April 2018, Egenberger, C-414/16, EU:C:2018:257, Rn. 76, und vom 22. Januar 2019, Cresco Investigation, C-193/17, EU:C:2019:43, Rn. 76).

37 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt dieser allgemeine Grundsatz, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist. Eine unterschiedliche Behandlung ist gerechtfertigt, wenn sie auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht, d. h., wenn sie im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der in Rede stehenden Regelung verfolgt wird, und wenn diese unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu dem mit der betreffenden Behandlung verfolgten Ziel steht (Urteil vom 9. März 2017, Milkova, C-406/15, EU:C:2017:198, Rn. 55).

38 Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, als Erstes zu prüfen, ob die Weigerung, dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens die in Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Vorabgenehmigung zu erteilen, eine Ungleichbehandlung wegen der Religion darstellt. Wenn dies der Fall ist, hat es sodann als Zweites zu prüfen, ob diese Ungleichbehandlung auf ein objektives und angemessenes Kriterium gestützt ist. [...]

43 Im Licht der vorstehenden Erwägungen stellt die Weigerung, dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens die in Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Vorabgenehmigung zu erteilen, eine mittelbar auf der Religion beruhende Ungleichbehandlung dar. Es ist daher zu prüfen, ob diese Ungleichbehandlung auf ein objektives und angemessenes Kriterium gestützt ist. [...]

54 Somit ist festzustellen, dass der Versicherungsmitgliedstaat dann, wenn ein auf ausschließlich medizinische Kriterien ausgerichtetes System der Vorabgenehmigung nicht bestünde, einer zusätzlichen finanziellen Belastung ausgesetzt wäre, die schwer vorhersehbar wäre und zu einer Gefahr für die finanzielle Stabilität seines Krankenversicherungssystems führen könnte.

55 Unter diesen Umständen erweist sich die fehlende Berücksichtigung der religiösen Überzeugungen des Betroffenen im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf Vorabgenehmigung für die finanzielle Übernahme von in einem anderen Mitgliedstaat beabsichtigten Behandlungen durch den zuständigen Träger als eine Maßnahme, die in Anbetracht des in Rn. 52 des vorliegenden Urteils genannten Ziels gerechtfertigt ist, nicht über das hinausgeht, was zu diesem Zweck objektiv erforderlich ist und das in Rn. 37 des vorliegenden Urteils genannte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit erfüllt.

56 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 im Licht von Art. 21 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es dem Wohnsitzmitgliedstaat des Versicherten nicht verwehrt, diesem die Erteilung der in Art. 20 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Genehmigung zu verweigern, wenn in diesem Mitgliedstaat eine Krankenhausbehandlung verfügbar ist, deren medizinische Wirksamkeit außer Frage steht, dieser Versicherte aber aufgrund seiner religiösen Überzeugungen die angewandte Behandlungsmethode ablehnt. [...]

65 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 8 Abs. 5 und Abs. 6 Buchst. d der Richtlinie 2011/24 im Licht von Art. 21 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es dem Versicherungsmitgliedstaat eines Patienten verwehrt, diesem die Erteilung der in Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Genehmigung zu verweigern, wenn in diesem Mitgliedstaat eine Krankenhausbehandlung verfügbar ist, deren medizinische Wirksamkeit außer Frage steht, dieser Patient aber aufgrund seiner religiösen Überzeugungen die angewandte Behandlungsmethode ablehnt. [...]

84 Entsprechend den Erwägungen in den Rn. 41 und 42 des vorliegenden Urteils begründet eine solche Weigerung eine mittelbar auf der Religion beruhende Ungleichbehandlung. Da mit dieser Ungleichbehandlung das legitime Ziel verfolgt wird, einen bestimmten Umfang der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder ein bestimmtes Niveau der Heilkunde zu erhalten, hat das vorlegende Gericht zu beurteilen, ob diese Ungleichbehandlung verhältnismäßig ist. Es hat insbesondere zu prüfen, ob sich die Berücksichtigung der religiösen Überzeugungen der Patienten bei der Umsetzung von Art. 8 Abs. 5 und Abs. 6 Buchst. d der Richtlinie 2011/24 dahin auswirkt, dass sie zu einer Gefahr für die Planung von Krankenhausbehandlungen im Versicherungsmitgliedstaat führt.

85 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 5 und Abs. 6 Buchst. d der Richtlinie 2011/24 im Licht von Art. 21 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es dem Versicherungsmitgliedstaat eines Patienten verwehrt, diesem die Erteilung der in Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Genehmigung zu verweigern, wenn in diesem Mitgliedstaat eine Krankenhausbehandlung verfügbar ist, deren medizinische Wirksamkeit außer Frage steht, dieser Patient aber aufgrund seiner religiösen Überzeugungen die angewandte Behandlungsmethode ablehnt, es sei denn, diese Weigerung ist objektiv durch das legitime Ziel gerechtfertigt, einen bestimmten Umfang der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder ein bestimmtes Niveau der Heilkunde zu erhalten, und stellt ein geeignetes und erforderliches Mittel dar, mit dem dieses Ziel erreicht werden kann, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. [...]