OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 18.02.2021 - 3 B 165/20 - asyl.net: M29617
https://www.asyl.net/rsdb/m29617
Leitsatz:

Kein Visumsverfahren beim Familiennachzug zu in anderen EU-Staaten Daueraufenthaltsberechtigten:

Für den Familiennachzug (hier: Kindernachzug) zu einem Familienmitglied (hier: Elternteil) mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG, wegen Daueraufenthaltsberechtigung in einem anderen EU-Mitgliedstaat, muss das Visum nicht vor der Einreise eingeholt werden, da dies nicht mit der Daueraufenthaltsrichtlinie (2003/109/EG) vereinbar ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, Daueraufenthalt, Visumsverfahren, Kindernachzug, Daueraufenthaltsrichtlinie, Zumutbarkeit, Ermessen, Corona-Virus, Daueraufenthaltsberechtigte, Unionsrecht, Daueraufenthaltsberechtigte,
Normen: AufenthG § 32, AufenthG § 38a, RL 2003/109 Art. 16 Abs. 1, AufenthG § 6 Abs. 3, AufenthV § 39 Nr. 6, AufenthG § 5 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist davon auszugehen, dass der Antrag des Antragstellers vom 27. März 2019 eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 AufenthG ausgelöst hat, so dass sein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig ist. Denn aus den mit der Beschwerde zutreffend dargelegten Gründen bedurfte er wegen § 39 Nr. 6 AufenthG, § 38a AufenthG, § 32 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG i. V. m. Art. 16 Abs. 1 RL 2003/109/EG für seine Einreise aus der Tschechischen Republik ungeachtet eines beabsichtigten Daueraufenthalts im Bundesgebiet keines Visums. Damit verstieß seine Einreise nicht gegen § 6 Abs. 3 AufenthG, der grundsätzlich bei einem mit der Einreise verfolgten Zweck eines langfristigen Aufenthalts ein Visumserfordernis vorsieht.

Der Antragsteller hat auch einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus §§ 32, 38a AufenthG i. V. m. mit Art. 16 Abs. 1 RL 2003/109/EG.

Der Antragsteller ist im Besitz eines von einem anderen Schengen-Staat ausgestellten Aufenthaltstitels. Er verfügt über einen Aufenthaltstitel der Tschechischen Republik mit der Bezeichnung "Trvaly Pobyt/Permanent Residence 51", der bis zum 21. September 2021 gültig ist.

Da sein Vater über einen Aufenthaltstitel nach § 38a AufenthG verfügt, unterfällt der Nachzug des Antragstellers zu seinem Vater neben § 32 AufenthG auch der Richtlinie 2003/109/EG. Nach dem Erwägungsgrund 20 Satz 1 dieser Richtlinie sollen "Familienangehörige … auch das Recht haben, sich mit dem langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem anderen Mitgliedsstaat niederzulassen, um die familiäre Lebensgemeinschaft zu wahren und den langfristig Aufenthaltsberechtigten nicht in der Ausübung seines Aufenthaltsrechts zu behindern." Art. 16 Abs. 1 RL 2003/109/EG bestimmt: "Übt der langfristig Aufenthaltsberechtigte sein Aufenthaltsrecht in einem zweiten Mitgliedsstaat aus und bestand die Familie bereits im ersten Mitgliedsstaat, so wird den Angehörigen seiner Familie, die die Bedingungen des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG erfüllen, gestattet, den langfristig Aufenthaltsberechtigten zu begleiten oder ihm nachzureisen".

In dem hier vorliegenden Fall einer Familie, die bereits vor der Weiterwanderung im ersten Mitgliedsstaat bestand, spricht Überwiegendes dafür, dass für die erstrebte Aufenthaltserlaubnis nur die in Art. 16 Abs. 4 RL 2003/109/EG genannten speziellen Nachzugsvoraussetzungen erfüllt sein müssen und die Einreise insbesondere nicht von der vorherigen Einholung eines Visums abhängig ist (vgl. BayVGH, Beschl. v. 13. April 2015 - 19 CS 14.2847 -, juris Rn. 17 ff., Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 38a Rn. 60).

Der Senat teilt die Auffassung, dass es geboten ist, im Lichte des Art. 16 Abs. 1, Abs. 4 RL 2003/109/EG auch die Bestimmung des § 39 Nr. 6 AufenthV anzuwenden, derzufolge Aufenthaltstitel im Bundesgebiet ohne Durchführung eines Visumverfahrens erteilt werden können (BayVGH, a.a.O. Rn. 18). Hiervon ausgehend ist die visumsfreie Einreise des Antragstellers rechtmäßig gewesen und hat die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG ausgelöst. Die vom Antragsgegner angeführte Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. Februar 2019 (- 10 ZB 18.1626 -, juris) betrifft diese Frage nicht, sondern lediglich den Anwendungsbereich von Art. 21 Abs. 1 SDÜ.

Zudem ist der Senat auch der Auffassung, dass aus den mit der Beschwerde dargelegten Gründen ein Absehen vom Erfordernis der Einholung eines Visums vor der Einreise nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gerechtfertigt wäre. Die Ausreise des Antragstellers erscheint hier aufgrund der besonderen Umstände des Falls nicht zumutbar. Hierfür streitet zunächst der Umstand, dass die visumsfreie Einreise erst nach Einholung eines rechtlich fundierten Rats seiner Prozessbevollmächtigten erfolgt ist. Zudem würde eine Ausreise zum Zweck der Einholung eines Visums insbesondere zu einer Unterbrechung des Schulbesuchs im Bundesgebiet für den Antragsteller und möglicherweise bis zum Verlust eines ganzen Schuljahres führen. [...]