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VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 04.05.2021 - 4 A 313/17 - asyl.net: M29627
https://www.asyl.net/rsdb/m29627
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine geschiedene Frau aus Afghanistan:

1. Eine Frau, der in Afghanistan Verfolgung durch ihren geschiedenen Mann droht, weil sie sich aus der Zwangsehe mit ihm gelöst und scheiden lassen hat, ist als Flüchtling anzuerkennen, da die Zwangsehe und somit auch die Verfolgung wegen der Trennung an das Geschlecht anknüpft.

2. Dem neuen Ehemann, der ebenfalls verfolgt wurde, ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, nicht jedoch die Flüchtlingseigenschaft, da die Verfolgung nicht an das Geschlecht anknüpft.

3. Interner Schutz ist wegen der durch die Corona-Pandemie verschlechterten wirtschaftlichen Lage nicht erreichbar.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, soziale Gruppe, Frauen,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Die Furcht der Klägerin vor Verfolgung im Sinne der §§ 3 Abs. 1, 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG gründet sich darauf, dass sie sich in Afghanistan gegen den Willen ihres ehemaligen Ehemanns aus einer Zwangsehe gelöst hat.

Eine in Afghanistan erfolgte Zwangsheirat stellt eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG dar. Danach gelten auch Handlungen als Verfolgung, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen. Eine Zwangsheirat greift grundlegend in das Selbstbestimmungsrecht einer Frau ein und hindert sie daran, ihr Leben in einer von ihr frei gewählten Art und Weise zu gestatten. Dabei wird insbesondere auch in das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau eingegriffen. Darüber hinaus ist die Freiheit der Eheschließung in Art. 12 EMRK, Art. 9 GR-Charta und Art. 16 Abs. 2 UN-Menschenrechtserklärung garantiert. Eine Zwangsheirat stellt eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung dar und ist in der Bundesrepublik Deutschland strafbewehrt. Außerdem setzt sich eine Frau, die sich in Afghanistan gegen den Willen ihres Ehemanns aus einer Zwangsehe löst, größten Gefahren aus. So ergibt sich aus den Erkenntnismitteln, dass Frauen, die aus einer gewalttätigen Ehe flüchten würden – trotz verbesserter Rechte der Frauen in Afghanistan - dem Risiko ausgesetzt seien, wegen Zina strafrechtlich verfolgt zu werden. Mädchen und Frauen, die versuchen würden, aus Zwangsehen zu fliehen, würden oft von den eigenen Familien verstoßen und hätten wegen des Stigmas des Weglaufens keinen Ort, an den sie gehen könnten. Sie könnten sogar wegen des Beschmutzens der Familie getötet werden (vgl. vorstehend ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Staatlicher Schutz vor Zwangsheirat: Sanktionen für Mädchen bei Flucht aus Zwangsheirat, 13. Oktober 2017). Somit ist die "Strafe", die eine sich aus einer Zwangsehe lösende Frau in Afghanistan zu erwarten hat, ebenfalls eine geschlechtsspezifische Verfolgung (vgl. VG Gießen, Urteil vom 02. September 2019 - 1 K 7171/17.GI.A -. juris).

Der Verfolgungsgrund ist im vorliegenden Fall die Zugehörigkeit der Klägerin zu 2. zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Dies ist hier wegen der erfolgten Zwangsverheiratung der Klägerin zu 2. der Fall. [...]