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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 23.03.2021 - XIII ZB 95/19 (Asylmagazin 10-11/2021, S. 393 f.) - asyl.net: M29629
https://www.asyl.net/rsdb/m29629
Leitsatz:

Rechtswidrige Überstellungshaft einer Mutter zweier minderjähriger Kinder:

1. Eine Haftanordnung im Interesse der Durchsetzung der Dublin-Überstellung kann grundsätzlich auch dann gerechtfertigt sein, wenn die betroffene Person hierdurch von ihren minderjährigen Kindern getrennt wird.

2. Im Falle gelebter Beziehungen von Eltern zu minderjährigen Kindern darf die Haft gegen einen Elternteil jedoch nur im äußersten Fall und nur für die kürzestmögliche Dauer angeordnet werden, da die Haft in diesem Fall nicht nur in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG der betroffenen Person, sondern zugleich in das Grundrecht auf den Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und das Recht auf den Schutz des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) eingreift.

3. Zur Gewährleistung des Kindeswohls ist besonders sorgfältig zu prüfen, welche Maßnahmen in Betracht kommen, um eine Trennung der Familie zu verhindern. Ein Haftantrag, der - wie vorliegend - zu diesen wesentlichen Punkten keine Ausführungen enthält, ist unzulässig, da er nicht die nach § 417 FamFG notwendigen Angaben enthält.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Schutz von Ehe und Familie, Achtung des Familienlebens, Kindeswohl, Überstellungshaft, Haftantrag,
Normen: GG Art. 6, EMRK Art. 8, FamFG § 417, VO 604/2013/EU Art. 28 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

8 aa) Zwar ist eine Haftanordnung im Interesse der Durchsetzung der Überstellung auch bei einer Trennung der betroffenen Person von ihren minderjährigen Kindern grundsätzlich gerechtfertigt, wenn ein Haftgrund vorliegt (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 9/10, InfAuslR 2010, 384 Rn. 27). Im Falle gelebter Beziehungen von Eltern zu minderjährigen Kindern darf Haft zur Sicherung einer Abschiebung oder Überstellung gegen einen Elternteil aber nur im äußersten Fall und nur für die kürzestmögliche angemessene Dauer angeordnet werden, da die Haft in diesem Fall nicht nur in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG der betroffenen Person, sondern zugleich in das Grundrecht auf den Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und das Recht auf den Schutz des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) eingreift (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Juni 2010 - V ZB 127/10, NVwZ 2010, 1318 Rn. 27; vom 19. Mai 2011 - V ZB 167/10, NVwZ 2011, 1216 Rn. 7; vom 6. Dezember 2012 - V ZB 218/11, InfAuslR 2013, 154 Rn. 11; vom 12. Dezember 2013 - V ZB 214/12, juris Rn. 12). Das folgt bei der Durchführung einer Überstellung nach der Dublin-III-Verordnung auch aus den unionsrechtlichen Vorgaben der uneingeschränkten Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls, Art. 28 Abs. 4 Dublin-III-VO i.V.m. Art. 11 Abs. 2 Unterabsatz 2 EU-AufnahmeRL, Erwägungsgründe 13 und 14 Dublin-III-VO (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 732/14, juris Rn. 16; VG Bayreuth, Beschluss vom 14. November 2017 - B 6 S 17.50926, juris Rn. 44). Es gilt in ganz besonderem Maße, wenn die minderjährigen Kinder - wie hier - während der Haft des Elternteils nicht durch den anderen Elternteil oder ein anderes volljähriges Familienmitglied betreut werden können (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2013 - V ZB 214/12, juris Rn. 14). In diesem Fall ist zur Gewährleistung des Kindeswohls besonders sorgfältig zu prüfen, welche Maßnahmen in Betracht kommen, um eine Trennung der Familie zu verhindern (vgl. auch Huber/Beichel-Benedetti, AufenthG, 2. Aufl., § 62 Rn. 22).

9 bb) Der Haftantrag enthält indes zu diesem für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkt keine Ausführungen. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung werden die Kinder der Betroffenen nicht erwähnt. Die Verhältnismäßigkeit wird nur unter dem Gesichtspunkt erörtert, ob ein milderes Mittel als die Inhaftierung der Betroffenen zur Sicherung ihrer Überstellung gegeben sei. Auch die Ausführungen zu der beantragten Haftdauer lassen nicht erkennen, dass deren Notwendigkeit nach den im Hinblick auf die Trennung der Familie geltenden strengen Maßstäben geprüft und bejaht worden wäre. Vielmehr ergibt sich aus dem Haftantrag, dass der Behörde noch nicht einmal der Aufenthaltsort der Kinder der Betroffenen bekannt war. Denn es wird lediglich erwähnt, dass nach ihnen auf dem Gelände der Unterkunft gefahndet werde und sie nach ihrem Aufgreifen in die Obhut des Jugendamtes übergeben würden. [...]