Abschiebungsverbot wegen humanitärer Lage in Venezuela:
Ein Ehepaar mit einem Kleinkind ist nicht in der Lage, eigenständig das Existenzminimum zu erwirtschaften.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Nach Überzeugung des erkennenden Einzelrichters ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich der Kläger im Falle seiner Rückkehr in extremer materieller Not befinden würde, die es ihm nicht erlauben würde, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu emähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden. Bei der Rückkehrprognose ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts insbesondere in den Blick zu nehmen, dass hier nicht von einer alleinigen Rückkehr des Klägers nach Venezuela ausgegangen werden kann. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kemfamiilie, ist hiemach für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kermfamilie zu unterstellen. Für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation ist daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18). Im vorliegenden Fall ist damit zu unterstellen, dass der Kläger nicht allein, sondern zusammen mit seiner Lebensgefährtin und seinem dreijährigen Sohn zurückkehren würde, da diese Teil seiner in der Bundesrepublik Deutschland gelebten Kernfamilie sind.
Venezuela ist in eine sozioökonomische und von Gewalt geprägte Krise geraten, die zu weit verbreiteter Armut, zum Zusammenbruch der Leistungen der Grundversorgung und zur Vertreibung von 4 Millionen Menschen in der Region geführt hat. Nach Angaben von Human Rights Watch „können viele Venezolaner aufgrund der erheblichen Engpässe bei Arzneimitteln, medizinischer Ausrüstung und Nahrungsmitteln ihre Familien nicht angemessen versorgen oder haben keinen Zugang zur medizinischen Basisversorgung“. Eine vom Weltemährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen in Venezuela zwischen Juli und September 2019 durchgeführte Bewertung ergab, dass 59 % der Haushalte kein ausreichendes Einkommen haben, um ausreichend Nahrungsmittel zu kaufen, und 65 % nicht in der Lage sind, wichtige Produkte wie Hygieneartikel und Kleidung zu kaufen (European Asylum Support Office, Venezuela Länderfokus, August 2020, S. 44). Aus der ENCOVIBefragung von fast 17.000 Haushalten für 2019-2020 ging hervor, dass knapp 80 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut leben und nicht einmal ihre Grundbedürfnisse sichern können (SWP-Aktuell, Venezuelas Polykrise, August 2020, S. 2). Dem Bericht des OHCHR war zu entnehmen, dass der Monatslohn nach Aussage der befragten Gesprächspartner „unzureichend“ ist, um den Grundbedarf zu decken und lediglich für etwa vier Tage Lebensmittel pro Monat ausreicht (European Asylum Support Office, Venezuela Länderfokus, August 2020, S. 44). Für das Jahr 2019 prognostizierte der Internationale Währungsfond im April 2019 eine Arbeitslosenquote von 44,3 Prozent, für das Jahr 2020 eine Arbeitslosenquote von 47,9 Prozent (ACCORD, Venezuela: Politischer Kontext, Demonstrationen und Gewalt, humanitäre Lage, September 2019, S. 11). In einer öffentlichen Mitteilung an die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen anlässlich ihres Besuchs in Venezuela schrieb die Cäritas Venezuela im Juni 2019, dass 52 von 100 Kindern, die die Organisation im Land aufsuchen würden, ein gewisses, kürzlich entstandenes Ernährungsdefizit („deficit nutricional reciente“) aufweisen würden (ACCORD, Venezuela: Politischer Kontext, Demonstrationen und Gewalt, humanitäre Lage, September 2019, S. 16). Mehr als ein Drittel der Kinder (35%), die die Cäritas aufsuchen würden, leide bereits unter irreversiblen körperlichen Entwicklungsverzögerungen (ACCORD, Venezuela: Politischer Kontext, Demonstrationen und Gewalt, humanitäre Lage, September 2019, S. 17). Die Bevölkerung sei darüber hinaus mit erheblichen Engpässen bei der Wasser- und Stromversorgung konfrontiert. UNICEF wies darauf hin, dass der „Zugang zu sauberem Trinkwasser für Kinder nach wie vor eine Herausforderung darstellt, was zu langwierigen Durchfallerkrankungen führt, die zu einer schweren Dehydrierung in den am stärksten betroffenen Gemeinschaften führen“. Die Unterbrechungen der Wasserversorgung dauern manchmal „Tage, Wochen oder sogar Monate”, sodass Familien ihr Wasser über Lastkraftwagen beziehen oder in andere Gebiete des Landes umziehen, was sich auf die Bereitstellung von Gesundheitsdiensten auswirkt. Nach Angaben von Amnesty International haben die Einwohner, insbesondere in einkommensschwachen Stadtvierteln, im Durchschnitt 48 Stunden pro Woche Zugang zu Trinkwasser (European Asylum Support Office, Venezuela Länderfokus, August 2020, S. 52 f.).
Es kann dahinstehen, ob es dem Kläger grundsätzlich möglich wäre, seine eigenen elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Denn nach aktueller Erkenntnislage ist jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er gleichzeitig auch für seine Lebensgefährtin und seinen dreijährigen Sohn sorgen könnte. Selbst wenn der Kläger eine Arbeit finden würde — was aufgrund seiner bisherigen Arbeit als Tätowierer und Künstler in Zeiten einer humanitären Krise eher unwahrscheinlich sein dürfte -, so dürfte sein maximal zu erwirtschaftendes Einkommen nicht dafür ausreichen, auch seine Lebensgefährtin und seinen Sohn mit einem Obdach und einem Mindestmaß an Nahrung und sauberen Trinkwasser zu versorgen. Der Kläger und seine Familie können auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auf die Hilfe der Familie des Klägers vertrauen. Der Kläger hat im Rahmen seiner informatorischen Anhörung für den Einzelrichter glaubhaft geschildert, dass seine Mutter, seine Schwester und sein Großvater in sehr beengten Verhältnissen zusammen in einer Wohnung in Caracas leben. Da die Mutter erkrankt sei und nicht mehr arbeiten könne, müsse seine Schwester die Mutter, den Großvater und sich selbst ernähren. Die Schwester verdiene jedoch nur 1 bis 2 Dollar im Monat, was schon für die derzeitige Nahrungsmittelversorgung nicht ausreiche. Auch Elektrizität gebe es in der Wohnung nicht. [...]