VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 30.03.2021 - 7 A 1186/17 - asyl.net: M29663
https://www.asyl.net/rsdb/m29663
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für Oppositionelle aus Ruanda:

Flüchtlingsanerkennung für eine Ruanderin, der wegen ihres Engagements in der Oppositionspartei RNC während ihres bereits beendeten Studiums in Uganda politische Verfolgung droht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ruanda, RNC, politische Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung, Exilpolitik,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Der ruandische Staat erwartet demnach von alle Ruanderinnen und Ruandern, dass sie stolz auf ihr Land und das seit dem Ende des Völkermords Erreichte sind (Hankel, Auskunft an das Verwaltungsgericht Oldenburg zur Rückkehrsituation ruandischer Staatsangehöriger, 10.08.2013, S. 2.). Loyalität zum neuen ruandischen Staat ist für jede Ruanderin und jeden Ruander eine nationale Pflicht (Hankel, Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover, 23.07.2018.). Jeder, der sich dem Staats- und Gemeinschaftsverständnis entzieht oder zu entziehen scheint, hat demnach mit Sanktionen zu rechnen. Die beschriebene Bandbreite reicht vom korrigierenden Gespräch über den öffentlichen Tadel bis zur Gefängnisstrafe. Unter Ausnutzung eines Schengen-Visums einen Asylantrag zu stellen, gehört wegen der einem Asylantrag immanenten notwendigen Kritik an der Politik und/oder an Organen des Herkunftslandes zu den Verhaltensweisen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer fühlbaren Sanktion, d.h. mit einer Gefängnisstrafe bestraft werden (Hankel, Auskunft an das Verwaltungsgericht Oldenburg zur Rückkehrsituation ruandischer Staatsangehöriger, 10.08.2013, S. 3.). Kritik an der ruandischen Politik wird als ein geradezu feindlicher Akt wahrgenommen. Auch bei Einzelpersonen sei davon auszugehen, dass dieser Akt nicht folgenlos bleibe, sondern bestraft werde (Hankel, Auskunft an das Verwaltungsgericht Oldenburg zur Rückkehrsituation ruandischer Staatsangehöriger, 10.08.2013, S. 4). Kritik von Nichtregierungsorganisationen wird demnach von der ruandischen Regierung vehement zurückgewiesen und es wird alles versucht, etwa mit Gegengutachten, eigenen Untersuchungsberichten oder prominent platzierten Zeugenaussagen, um das Bild eines moralisch integer handelnden Staates, der die Lehren aus dem Völkermord zur politischen Leitlinie gemacht hat, aufrechtzuerhalten (Hankel, Auskunft an das Verwaltungsgericht Oldenburg zur Rückkehrsituation ruandischer Staatsangehöriger, 10.08.2013, S. 5.). Wer sich der Vision des Präsidenten Kagame und seiner Partei von einem neuen Ruanda widersetzt oder zu widersetzen scheint, wird in überaus zweifelhaften Verfahren strafrechtlich verfolgt, verschwindet in einem der Geheimgefängnisse oder wird umgebracht (Hankel, Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover, 23.07.2018.).

Zwar sind laut Verfassung und Gesetz Folter und unmenschliche Behandlung in Ruanda verboten. Dennoch wird von zahlreichen Misshandlungen von Gefangenen seitens der Polizei, des Militärs und des Geheimdienstes berichtet. Um an Geständnisse zu gelangen, werden Inhaftierte demnach im Gefängnis von der Polizei zeitweise geschlagen. Berichte weisen darauf hin, dass auch die Sicherheitskräfte und Militärgeheimdienstpersonal in Gefangenenlagern des Militärs Folter und andere unmenschliehe Praktiken anwenden, um Geständnisse zu erhalten (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Ruanda, 26.02.2018, S. 10). Es wird von politisch motiviertem Verschwindenlassen berichtet. Informationen zufolge sollen Sicherheitsbehörden - der SSF (State Security Forces) und RDF (Rwanda Defence Forces), NISS (National Intelligence and Security Services) wie auch die RNP (Rwanda National Police) - hierfür verantwortlich sein (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Ruanda, 26.02.2018, S. 10). Es werden weiterhin Personen in inoffiziellen Militärgefängnissen gefangen gehalten, in welchen zahlreiche Häftlinge gefoltert werden. Zudem nutzen die Behörden außergerichtliche Hinrichtungen als Warnung. Gleichzeitig verleugnen Regierungsvertreter Berichte über Morde. Personen, die wegen Verbrechen gegen die Staatssicherheit angeklagt werden, werden weiterhin unrechtmäßig in Militärlagern festgehalten. Viele Menschen in diesen Lagern werden gefoltert (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Ruanda, 26.02.2018, S. 10).

Belästigung durch die Regierung, Verhaftung und Misshandlung von politischen Gegnern, Menschenrechtsaktivisten und Einzelpersonen, welche eine Bedrohung für die staatliche Kontrolle und soziale Ordnung darstellen, werden als die größten Probleme in der Verletzung der Menschenrechte beschrieben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Ruanda, 26.02.2018, S. 12).

Die regierende Rwandan Patriotic Front (RPF) hat Berichten zufolge auch im Jahr 2020 diejenigen ins Visier genommen, die als Bedrohung für die Regierung wahrgenommen wurden. Willkürliche Verhaftungen, Misshandlungen und Folter in offiziellen und inoffiziellen Hafteinrichtungen dauern an (Human Rights Watch, Ruanda, 2021; vgl. auch US Department of State, Rwanda 2019 Human Rights Report, S. 2 ff.). Laut Amnesty International wurden mehrere Fälle von vermutlich erzwungenem Verschwindenlassen dokumentiert. Es werden mehrere Fälle von verdächtigen Todesfällen in Haft beschrieben. So ist etwa der bekannte Musiker Kizito Mihigo tot in seiner Zelle in der Polizeistation Remara gefunden worden. Die Polizei hat Berichten zufolge den Tod als Selbstmord bezeichnet, bevor die Untersuchungen abgeschlossen gewesen sind. Mihigo war demnach 2014 verhaftet worden, nachdem er ein Lied veröffentlicht hatte, in dem er für die Opfer des Völkermords und anderer Gewalt betete. Er wurde 2015 wegen Verschwörung gegen die Regierung, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Verschwörung zu einem Attentat verurteilt, bevor er nach Begnadigung durch den Präsidenten freigelassen wurde (Amnesty International, Rwanda: More Progress Needed on Human Rights Commitments, 2020, S. 8). Es wird weiterhin von willkürlichen Verhaftungen berichtet (Amnesty International, Rwanda: More Progress Needed on Human Rights Commitments, 2020, S. 9).

Wegen exilpolitischer Tätigkeiten werden Ruander bei Rückkehr regelmäßig Befragungen unterzogen. Festnahmen und Inhaftierungen können dabei nach der Erkenntnislage nicht ausgeschlossen werden (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Braunschweig, 23.08.2012, S. 2). ln einer Auskunft an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht vom 23.04.2020 erklärte das Auswärtige Amt auf die Frage, ob ruandische Staatsangehörige, die Ruanda ohne Vorverfolgung legal verlassen haben, die nach einem mehrjährigen Aufenthalt im westlichen Ausland mit dortiger Asylantragstellung nach Ruanda zurückkehren und die im Ausland dem RNC beigetreten sind, ohne sich jedoch exponiert exilpolitisch betätigt zu haben, mit staatlicher Verfolgung zu rechnen haben, dies sei der Fall. Mögliche Verfolgungsmaßnahmen sind demnach invasive staatliche Überwachung, willkürliche Verhaftung sowie Folter durch Vollzugsbeamte, insbesondere mit dem Ziel, Informationen über andere RNC-Mitglieder zu erhalten (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht, 23.04.2020, S. 2). [...]