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VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 13.02.2020 - 2 A 919/17 - asyl.net: M29681
https://www.asyl.net/rsdb/m29681
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für eine Frau aus Pakistan, die mit ihren beiden Kindern vor zwei gewalttätigen früheren Ehemännern geflohen ist.

1. Keine Flüchtlingsanerkennung, da Voraussetzung für ein an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung in Fällen häuslicher Gewalt wäre, dass die Art und Weise der Gewaltausübung spezifisch auf den Genderstatus der Frau gerichtet ist und der staatliche Schutz aufgrund dieses Status systematisch versagt wird. Obwohl häusliche Gewalt in Pakistan ein ernstzunehmendes Problem ist, bestehen keine Anhaltspunkte für eine institutionalisierte Steuerung oder Tolerierung solcher Gewalt gerade aufgrund des Genderstatus.

2. Es besteht jedoch Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da im Fall der Rückkehr nach Pakistan erneut häusliche Gewalt droht. Denn die alleinerziehende Mutter könnte voraussichtlich den Lebensunterhalt für sich und die Kinder nicht bestreiten, weil sie keinen Beruf erlernt hat und die Löhne in Pakistan niedrig sind. Daher wäre sie gezwungen, bei einer Rückkehr nach Pakistan zu ihrem letzten Ehemann zurückzukehren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Existenzgrundlage, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Frauen, alleinerziehend, subsidiärer Schutz, häusliche Gewalt, Schutzbereitschaft,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4,
Auszüge:

[...]

Die Eigenschaft als Frau führt nach Auffassung des Gerichts nicht dazu, dass eine Person von der pakistanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet wird und insoweit einer Gruppe mit abgrenzbarer Identität angehört. Frauen, die auch in Pakistan einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausmachen, werden dort nicht als "gesellschaftlicher Fremdkörper" (vgl. Bergmann/Dienelt. Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 3b AsylG Rn. 2) eingestuft. Dass Frauen, die Opfer von familiärer Gewalt wurden, als abgrenzbare Gruppe anzusehen sind, kann das Gericht ebenfalls nicht feststellen (ebenso für Afghanistan: VG Greifswald, Urteil vom 06.12.2017 - 3 A 1424/16 As HGW -, juris, Rn. 48). Dagegen sprechen insbesondere gesetzessystematische Gründe, weil ansonsten die Verfolgungshandlung und der Verfolgungsgrund in unzulässiger Weise miteinander vermischt würden (so bereits Urteil der Kammer vom 10.12.2018 - 2 A 846/17 -, juris Rn. 25).

Selbst wenn man das Vorliegen der Anforderungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 lit. b) AsylG für eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG nicht für erforderlich halten sollte, ist für die Annahme einer an das Geschlecht anknüpfenden Verfolgung in den Fällen häuslicher Gewalt dennoch erforderlich, dass die Art und Weise der Gewaltausübung spezifisch auf den "Genderstatus" der Frau gerichtet ist und der staatliche Schutz systematisch wegen dieser "Genderfaktoren" versagt wird. Der entscheidende Umstand, der von häuslicher Gewalt betroffene Frauen von den Frauen innerhalb einer Gesellschaft insgesamt abgrenzt, ist die evidente Tatsache institutionalisierter Diskriminierung von Frauen durch Polizei, Gerichte und das gesamte Rechtssystem eines Staates (Marx. AsylG. 10. Aufl. 2019, § 3b Rn. 33 und 27 m.w.N.; s.a. VG Köln, Urteil vom 12.07.2018 - 8 K 15907/17.A -, juris, Rn. 39 ff. m.w.N.: politische Dimension der Verfolgung erforderlich). Obwohl häusliche Gewalt in der pakistanischen Gesellschaft verbreitet und ein ernstzunehmendes Problem ist (vgl. z.B. Bundesamt für Fremdenwesen der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Pakistan vom 16.05.2019 - Stand: 28.05.2019 -, S. 82), bestehen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen keine Anhaltspunkte für eine institutionalisierte Steuerung oder auch nur Tolerierung solcher Gewalt durch staatliche Stellen gerade deshalb, weil die Betroffenen Frauen sind. [...]

Zwar sind die Kläger nach dem Vorstehenden ausgereist, ohne sich in der konkreten Gefahr einer Fortsetzung der häuslichen Gewalt durch den zweiten Ehemann der Klägerin zu 1. zu befinden. Ihnen droht jedoch im Fall ihrer Rückkehr nach Pakistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut häusliche Gewalt durch den Ehemann als nichtstaatlichen Akteur i.S.v. § 4 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG und sie haben deshalb eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG) und damit einen ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG zu befürchten. Eine Behandlung ist unmenschlich im vorgenannten Sinn, wenn sie absichtlich und über eine gewisse Dauer hinweg erfolgt und entweder eine Körperverletzung oder intensives psychisches oder physisches Leid verursacht. Als erniedrigend ist eine Behandlung anzusehen, wenn sie eine Person erniedrigt oder entwürdigt, indem sie es an Achtung für die Menschenwürde fehlen lässt oder diese angreift oder Gefühle der Angst, des Schmerzes oder der Unterlegenheit erweckt, die geeignet sind, den moralischen oder körperlichen Widerstand der Person zu brechen (vgl. Karpenstein/Mayer, EMRK. 2. Aufl. 2015. Art. 3 Rn. 8).

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wären die Kläger gezwungen, in Pakistan zum Ehemann der Klägerin zu 1. zurückzukehren, denn die Klägerin zu 1. wäre dort nicht in der Lage, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu gewährleisten. Im Fall erwachsener, junger, arbeitsfähiger Männer ohne eigene Kinder geht das Gericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass diese in den Großstädten Pakistans und in anderen Landesteilen auch ein ausreichendes Einkommen finden (vgl. Wagner, Auskunft an VG Karlsruhe vom 09.11.2011; UNHCR vom 14.05.2012). Zwar ist das Leben in den Großstädten teuer, allerdings haben viele Menschen kleine Geschäfte oder Kleinstunternehmen. Es gibt aufgrund der großen Bevölkerung viele Möglichkeiten für Geschäfte auf kleiner Basis (vgl. zum Ganzen auch: VG Augsburg. Urteil vom 30.03.2015 - Au 3 K 14.30437 - juris Rn. 52; VG Regensburg. Urteil vom 09.01.2015 - RN 3 K 14.30674 - juris Rn. 24; Urteil vom 10.12.2013 - RN 3 K 13.30374 - juris Rn. 31 jeweils unter Bezugnahme auf die Auskunft des Bundesasylamts der Republik Österreich vom Juni 2013, Pakistan 2013, S. 76; VG Düsseldorf, Urteil vom 02.09.2015 - 14 K 6662/14.A -, V.n.b.). Anders als einem alleinstehenden, kinderlosen Mann wird es der Klägerin zu 1., die keinen Beruf erlernt hat, jedoch nicht gelingen, für sich und ihre Kinder in Pakistan eine tragfähige Existenzgrundlage zu verschaffen. Staatliche Wiedereingliederungshilfen oder sonstige Sozialleistungen für pakistanische Staatsangehörige, die in ihr Heimatland zurückkehren, gibt es nicht (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.07.2019, S. 24). Laut Stellungnahme des Bundesasylamts der Republik Österreich (Bericht zur Fact Finding Mission Pakistan 2013, S. 75 f.) stellte sich die Einkommenslage in Pakistan im Jahr 2013 wie folgt dar: Ein Einkommen, das in der Mittelschicht erzielt werde (ca. 20.000 bis 30.000 Rupien, d. h. nach heutigem, aktuellem Umrechnungskurs zwischen etwa 260,00 und 390,00 Euro), reiche bei einer Familie mit zwei Kindern gerade aus, um die wichtigsten Bedürfnisse zu befriedigen, sofern ein eigenes Haus vorhanden sei. Müsse man Miete zahlen, sei dies schwieriger, mit einem darunter liegenden Einkommen sei das Auskommen schwierig. Im niedrigen öffentlichen Dienst, als Tagelöhner oder Kleinstangestellter sei ein Gehalt von 10.000 bis 20.000 Rupien zu erzielen, was (nach aktuellem Kurs) etwa 130,00 bis 260,00 Euro entspricht. Das reiche kaum, um über die Runden zu kommen. Der Arbeitsmarkt sei durch Unterbeschäftigung bzw. Unterbezahlung gekennzeichnet, die Löhne seien gering und reichten schlecht für das notwendigste Auskommen, und die Bedingungen für die Arbeiterklasse würden schlechter. Das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt und die Möglichkeit, ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen, heute günstiger darstellen. Angesichts der geschilderten Situation ist zu befürchten. dass die Kläger nach ihrer Rückkehr nach Pakistan in kurzer Zeit in eine existenzbedrohende Situation geraten würden. Auf die Hilfe der Familie der Klägerin zu 1. könnten sie nicht rechnen. Nach deren glaubhaftem Vortrag hat die Familie sie nach dem Scheitern der ersten Ehe nur widerwillig aufgenommen und so bald wie möglich für sie eine neue Ehe arrangiert. Ihr Vater lehnt jeglichen Kontakt mit ihr ab und ihre Mutter ist mittlerweile verstorben. Es kann auch nicht unterstellt werden. dass ihr noch in Deutschland befindlicher Bruder, der ihr früher finanzielle Hilfe gewährt und ihr die räumliche Trennung von ihrem Ehemann erst ermöglicht hat, sie über Jahre hinweg weiterhin unterstützt. Der Bruder ist hierzu rechtlich nicht verpflichtet und es ist nicht auszuschließen. dass er eine eigene Familie gründen und deshalb oder aus anderen Gründen gar nicht in der Lage sein wird, seine Schwester und ihre beiden Kinder zu unterhalten.

Die Klägerin zu 1. wäre demnach mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gezwungen, aus Gründen der Existenzsicherung alsbald nach ihrer Rückreise nach Pakistan mit ihren Kindern zu ihrem zweiten Ehemann zurückzukehren. Im Hinblick auf die von ihr glaubhaft geschilderten Vorfälle, die sich auch auf ihre Kinder bezogen, ist davon auszugehen, dass die Kläger dadurch erneut in familiären Verhältnissen leben müssten, die von andauernder häuslicher Gewalt geprägt wären. Diese Gewalt und die damit einhergehenden Verletzungen und Demütigungen würden eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung i.S.v. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG darstellen.

Es ist auch nicht davon auszugehen, dass der pakistanische Staat den Klägern im Fall einer Strafanzeige effektiven Schutz vor einer solchen Behandlung bieten würde (vgl. §§ 3c Nr. 3, 3d AsylG). Eine Verfolgung von Straftaten wird in Pakistan dadurch erschwert, dass die Polizei schlecht bezahlt, oft unzureichend ausgestattet und in extrem hohem Maß korruptionsanfällig ist. Zudem sind die Polizeikräfte oft in lokale Machtstrukturen eingebunden und deshalb nicht in der Lage, unparteiliche Untersuchungen durchzuführen. So werden häufig Strafanzeigen gar nicht erst aufgenommen und Ermittlungen verschleppt (Auswärtiges Amt. Lagebericht vom 29.07.2019, Seite 9). Polizei und Gerichte sind abgeneigt, Fälle häuslicher Gewalt zu verfolgen, da diese als Familienprobleme angesehen werden. Statt Anzeigen aufzunehmen, ermutigt die Polizei die Streitparteien, sich zu versöhnen und schickt Missbrauchsopfer regelmäßig zu ihrer sie missbrauchenden Familie zurück (Bundesamt für Fremdenwesen der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Pakistan vom 16.05.2019 - Stand: 28.05.2019 -, S. 82). Es ist daher davon auszugehen, dass die Polizeikräfte nicht willens bzw. in der Lage wären, die Kläger vor den Übergriffen des Ehemanns der Klägerin zu 1. zu schützen. Zwar bekennt sich Pakistan in seiner Verfassung und auf der Ebene einfacher Gesetze grundsätzlich zur staatlichen Schutzpflicht. Gleichwohl fällt es Pakistan insgesamt angesichts schwach ausgebildeter rechtsstaatlicher Strukturen und der geringen Verankerung des Rechtsstaatsgedankens in der Gesellschaft schwer, rechtsstaatlichen Entscheidungen und damit auch der Schutzpflicht Geltung zu verschaffen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.07.2019, Seite 19). Es ist daher anzunehmen, dass die Kläger den zu befürchtenden Übergriffen schutzlos gegenüberstehen würden. [...]