VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 07.06.2021 - 2 A 44/18 - asyl.net: M29716
https://www.asyl.net/rsdb/m29716
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für westlich geprägte Frau aus dem Irak:

1. Irakische Frauen, die in einem solchen Maße in ihrer Identität "westlich" geprägt sind, dass sie entweder nicht dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer "westlichen" Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann, bilden eine soziale Gruppe im Sinne von § 3b AsylG.

2. Ob eine in Ihrer Identität westliche geprägte Frau bei einer Rückkehr in den Irak einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung ausgesetzt ist, beurteilt sich nach einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Einzelfallumstände, insbesondere dem regionalen, sozialen und familiären Hintergrund.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Frauen, westlicher Lebensstil, nichteheliches Kind, Flüchtlingsanerkennung, soziale Gruppe, geschlechtsspezifische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie – beispielsweise infolge eines längeren Aufenthalts in Europa – in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann (VG Hannover, Urteil vom 09.03.2021 - 12 A 11390/17 – und vom 18.03.2021 – 12 A 1130/18 -, n.v.; VG München, Urteil vom 01.07.2020 - M 4 K 16.35270 -, juris; VG Hannover, Urteil vom 22.06.2020 - 12 A 773/18 -, n.v.; VG Stade, Urteil vom 23.07.2019 - 2 A 19/17 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 03.05.2019 - 4 K 3092/17.A -, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris; VG Göttingen, Urteil vom 05.07.2011 - 2 A 215/09 -, juris; vgl. auch Nds. OVG, Beschluss vom 16.02.2006 - 9 LB 27/03 -, juris; in Bezug auf westlich geprägte Frauen afghanischer Herkunft: Nds. OVG, Urteil vom 21.09.2015 - 9 LB 20/14 -, juris). Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet.

Die Einzelrichterin ist nach der Befragung und dem persönlichen Eindruck der Klägerin in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin aufgrund ihres Aufenthalts in Deutschland eine nachhaltige westliche Prägung erfahren hat, die auf einer ernsthaften und inneren Überzeugung beruht und es ihr nicht mehr zumutbar wäre, sich dem im Irak vorherrschenden traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen zu unterwerfen.

Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung das Bild einer selbstbewussten und intelligenten Frau vermittelt, die sich in ihrem Auftreten, ihrem Kleidungsstil und im Gesprächsverhalten nicht von anderen gleichaltrigen deutschen Frauen unterscheiden lässt. Sie hat sich seit ihrem Aufenthalt in Deutschland um zahlreiche Praktika bemüht und Sprachkurse besucht, um eine ihren Neigungen entsprechende Arbeitsstelle zu finden, was ihr zwischenzeitlich auch gelungen ist. Derzeit führt die Klägerin eine Beziehung mit einem Mann, mit dem sie ein kleines Kind hat. Sowohl der Partner der Klägerin als auch ihr Kind haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Insbesondere die Beziehung mit einem Mann und die Erziehung eines unehelichen Kindes stellt eine westliche Lebensführung dar, die dem traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen im Irak widerspricht. Die Klägerin hat glaubhaft dargelegt, dass sie sich sowohl im Irak als auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten anders als in Deutschland nicht habe frei und offen bewegen können. Das Tragen eines Kopftuches habe sie als Zwang empfunden. Zwar  habe sie das Kopftuch auch in Deutschland erst allmählich abgelegt, jedoch konnte sie glaubhaft schildern, dass sie zunächst noch Angst vor anderen in Deutschland lebenden Arabern gehabt habe. Es sei ihr auch wichtig gewesen, einen neuen Ausweis bei der Ausländerbehörde mit einem Foto ohne Kopftuch zu beantragen, obwohl sie das nicht hätte machen müssen. Sie konnte ferner überzeugend ausführen, dass sie anders als in ihrem Heimatland allein und ohne Kopftuch rausgehen könne, arbeiten könne, wo sie möchte und auch Beziehungen haben, zu wem sie möchte. Dabei hat sie nachvollziehbar schildern können, dass ihr in ihrem Heimatland nicht gelungen sei, eine ihrem Abschluss entsprechende Arbeit zu finden, weil sie weder einer Partei noch einer Miliz angehört habe. Die Klägerin hat auch glaubhaft dargelegt, dass ihr ein Leben, welches sie derzeit führe, im Irak nicht möglich sei und sie es sich auch nicht mehr vorstellen könnte. Insbesondere könne sie nicht in einer Beziehung mit einem unehelichen Kind leben, wie es ihr in Deutschland möglich ist. Zudem habe sie keine Verwandtschaft mehr im Irak und lebe dort bereits seit dem Jahr 2006 nicht mehr. Dass die Klägerin das Kopftuch nicht sofort, sondern allmählich abgelegt und erst im Klageverfahren von ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den traditionellen Sitten- und Rollenbilder Iraks berichtet hat, wertet die Einzelrichterin als eine fortschreitende Entwicklung ihrer inneren Haltung, die sich schließlich verfestigt hat und von ihr nunmehr gelebt wird. Aus diesem Grund geht die Einzelrichterin davon aus, dass der Klägerin nicht mehr zugemutet werden kann, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort geltenden Traditionen und Verhaltensweisen wieder anzupassen.

Die Einzelrichterin geht davon aus, dass der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr in den Irak dort mit Blick auf die Tatsache, dass sie eine an westlichen Werten orientierte Frau ist, die diese Werte auch erkennbar nach außen trägt, eine geschlechtsspezifische Verfolgung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG durch einen nichtstaatlichen Akteur mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ohne dass der irakische Staat und die kurdischen Autonomiegebiete sie davor schützen könnten.

Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte irakische Frau im Fall ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt ist, bedarf einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sich die konkrete Situation irakischer Frauen je nach regionalem und sozialen Hintergrund stark unterscheiden kann, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, ob und inwieweit die Betreffende voraussichtlich durch einen Familien- oder Stammesverbund vor Verfolgungsmaßnahmen geschützt werden kann (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 21.09.2015, a.a.O., juris Rn. 39). [...]