Verpflichtung zur Einleitung eines aufenthaltsrechtlichen Verteilverfahrens:
1. Nach § 15a AufenthG ist die Ausländerbehörde, in deren Zuständigkeitsbereich die unerlaubte Einreise festgestellt wird oder die betroffende Person ihren Aufenthalt anzeigt, dazu verpflichtet, ein Verteilverfahren einzuleiten. Die Ausländerbehörde darf die Einleitung des Verfahrens nicht mit der Begründung aussetzen, dass zuvor noch Maßnahmen zur Identitätsklärung notwendig sind.
2. Die Erteilung einer Duldung vor der Verteilung nach § 15a AufenthG ist unzulässig.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er kann von der Ausländerbehörde die Erteilung einer Duldung nicht verlangen. Seinem Anspruch steht § 15a Abs. 1 Satz 1 AufenthG entgegen. Danach werden unerlaubt eingereiste Ausländer, die weder um Asyl nachsuchen noch unmittelbar nach der Feststellung der unerlaubten Einreise in Abschiebungshaft genommen und aus der Haft abgeschoben oder zurückgeschoben werden können, vor der Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung oder die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf die Länder verteilt. Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben im März 2018 ohne ein Visum in Deutschland eingereist und hat weder um Asyl nachgesucht noch wurde er in Abschiebehaft genommen. Für ihn ist daher zunächst ein Verteilverfahren durchzuführen. Die Erteilung einer Duldung vor der Verteilung gemäß § 15a AufenthG ist unzulässig (OVG NRW, Beschluss vom 25. Januar 2018 - OVG 18 B 1537/17 - juris, Leitsatz Nr. 2, Rn. 2 f. m.w.N.; OVG Hamburg, Beschluss vom 23. Juni 2010 - OVG 5 Bs 117/10 - juris, Rn. 8 m.w.N.; Dollinger in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 28. Ed., Stand: 1. Juli 2020, § 15a AufenthG, Rn. 26). [...]
Dem Vorrang des Verteilverfahrens steht auch die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Unzulässigkeit eines ungeregelten Aufenthalts nicht entgegen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht am 6. März 2003 entschieden, dass keine Konstellation denkbar ist, in denen ein ausreisepflichtiger Ausländer, der aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden kann, keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung hat (BVerfG, Beschluss vom 6. März 2003 - BVerfG 2 BvR 397/02 - juris, Orientierungssatz 1 c, Rn. 37 f.). Das Gericht bezieht sich auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, das mit Urteil vom 15. September 1997 (- BVerwG 1 C 3/97 - juris, Orientierungssatz Nr. 1 sowie Rn. 17 ff.) entschieden hat, dass die Systematik des Aufenthaltsgesetzes keinen Raum für einen "ungeregelten" Aufenthalt lasse. Es sei gerade die Funktion der Duldung (förmlich) festzustellen, dass der Aufenthalt eines Ausländers hingenommen wird. Diese förmliche Regelung des Aufenthalts sei insbesondere deshalb erforderlich, weil das Aufenthaltsgesetz in§ 95 Abs. 1 Nr. 2 (damals: § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG) den unerlaubten Aufenthalt unter Strafe stelle (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. September 1997, a.a.O.; Rn. 20; BVerfG, Beschluss vom 6. März 2003, a.a.O., Rn. 39). Diese Rechtsprechung hat das Bundesverwaltungsgericht bestätigt und klargestellt, dass eine stillschweigende "faktische" Duldung anstelle einer förmlichen, schriftlichen Duldung nicht hinnehmbar sei (BVerwG, Urteil vom 25. März 2014 - BVerwG 5 C 13.13 - juris, Rn. 20).
Die Einführung des § 15a AufenthG hat die Systematik des Aufenthaltsgesetzes jedoch geändert. In den Fällen des § 15a AufenthG soll nunmehr vor der Entscheidung über die Erteilung der Aussetzung der Abschiebung eine Verteilung stattfinden. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut des § 15a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, sondern auch aus der Gesetzeshistorie und dem Normzweck. Die Intention des Gesetzgebers war es, eine gleichmäßige bundesweite Verteilung sicherzustellen (Nottermann: in HTK-AuslR, Stand: 30. Januar 2019, § 15a AufenthG, Rn. 1; Dienelt in: Bergmann/ders., Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 15a AufenthG, Rn. 19 m.w.N.). Um das Ziel einer gleichmäßigen Verteilung der Lasten zu erreichen, hat es der Normgeber hingenommen, dass die Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung zeitlich nach hinten verschoben wird, wobei eine zügige Durchführung der Verteilung geboten ist (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. Januar 2018, a.a.O., Rn. 11 ). Dieser Sichtweise steht auch nicht die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 1. April 2020 - OVG 3 S 124.19 - juris, Tenor, Rn. 3, 4 und 7) entgegen, das den Antragsgegner in seiner Entscheidung verpflichtet hat, einer Minderjährigen, die ohne Personen- oder Erziehungsberechtigte in die Bundesrepublik eingereist ist, unabhängig von einer Verteilentscheidung eine Duldung zu erteilen. Denn das Oberverwaltungsgericht hat in der Entscheidung ausdrücklich klargestellt, dass § 15a AufenthG auf die (minderjährige) Antragstellerin nicht anwendbar ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O., Rn. 3). [...]
2. Auch der von dem Antragsteller hilfsweise geltend gemachte Antrag, den Antragsgegner - insoweit das LAF - im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn gemäß § 15a AufenthG auf das Land Berlin zu verteilen, hat gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO keinen Erfolg. Eine Entscheidung über den Zielort der Verteilung unter Berücksichtigung der gemäß § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG geltend gemachten Belange kann erst erfolgen, wenn das Verteilverfahren eingeleitet wurde. [...]
4. Der ferner hilfsweise gestellte Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner - insoweit das Landesamt für Einwanderung - zu verpflichten, das Verteilverfahren nach § 15a AufenthG einzuleiten, hat indes Erfolg. Der gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zulässige Antrag ist begründet.
Wie oben dargelegt, ist die Ausländerbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, das Verteilverfahren nach§ 15a AufenthG einzuleiten. Von der Einleitung des Verteilverfahrens durfte die Ausländerbehörde im vorliegenden Fall auch nicht ausnahmsweise so lange absehen, bis die Identität des Antragstellers zweifelsfrei geklärt ist. Zwar ist der Ausländerbehörde insofern beizupflichten, als § 15a AufenthG nicht ausdrücklich normiert, wann bzw. bis wann das Verteilverfahren einzuleiten ist. Aus der Systematik und dem Sinn und Zweck der Vorschrift ergibt sich jedoch, dass dies zügig zu geschehen hat (OVG NRW, Beschluss vom 25. Januar 2018, a.a.O., Rn. 11) und der Ausländerbehörde zu diesem Zeitpunkt keine umfangreiche Prüfkompetenz zukommt. Denn durch eine weitere Prüfung und das damit verbundene Zuwarten verhindert die Ausländerbehörde, dass das Verteilverfahren in Gang gesetzt und die Zuständigkeit einer Ausländerbehörde endgültig geklärt wird. Ferner ergibt sich aus § 15a Abs. 4 Satz 2 AufenthG, dass die Ausländerbehörde (nur) eine Anhörung des Ausländers. durchzuführen und das Ergebnis derselben an das LAF zu übermitteln hat. Eine darüberhinausgehende Prüfungskompetenz der Ausländerbehörde kann der Norm nicht entnommen werden. Vielmehr obliegt es gern. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG dem Ausländer, im Rahmen des Verteilverfahrens Gründe nachzuweisen, die seine Verteilung an einen bestimmten Ort begünstigen. Diese Sichtweise steht im Übrigen auch im Einklang mit der Zuständigkeitsregel des§ 71 Abs. 4 Satz 2 AufenthG. Danach ist für die Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen zur Sicherung der Identität des Ausländers im Rahmen eines Verteilverfahrens nach § 15a AufenthG auch das LAF zuständig. Kann das LAF aber Maßnahmen zur Identitätssicherung ergreifen, so sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, warum Zweifel an der gesicherten Identität des Ausländers nicht im Rahmen des weiteren Verfahrens geklärt werden können. [...]