Subsidiärer Schutz für Ukrainerin wegen häuslicher Gewalt:
1. Einer Frau, die häusliche Gewalt durch ihren Ehemann erfahren hat und deren Schwiegereltern bei der Polizei arbeiten, ist subsidiärer Schutz im Sinne des § 4 AsylG zu gewähren.
2. Häusliche Gewalt gegen Frauen ist in der Ukraine ein ernstes Problem und weit verbreitet. Etwa ein Viertel aller ukrainischen Frauen erlebt körperliche oder sexuelle Gewalt. Die Covid-19-Pandemie hat zu einem Anstieg häuslicher Gewalt geführt. Polizei und Gerichte betrachten häusliche Gewalt oft als private Angelegenheit und gewähren keinen angemessenen Schutz.
3. Zumindest wenn die Schwiegereltern, die bei der Polizei tätig sind, den Aufenthaltsort der Betroffenen in Erfahrung bringen können, ist nicht davon auszugehen, dass staatlicher Schutz vor häuslicher Gewalt gewährleistet werden kann.
(Leitsätze der Redaktion; anders als noch VG Schwerin, Urteil vom 20.03.2019 - 5 A 1332/18 SN - asyl.net: M27204)
[...]
b) Der Klägerin ist jedoch subsidiärer Schutz zuzuerkennen. Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG auch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. [...]
Der Begriff der unmenschlichen Behandlung erfasst Verletzungen der Menschenwürde unterhalb der Schwelle der Folter, wobei der EGMR in seiner Spruchpraxis auch auf das Element der Grausamkeit zurückgreift. Nach einer vielfach vom EGMR verwendeten Formel bedarf es einer vorsätzlichen Behandlung, die für mehrere Stunden am Stück angewandt wurde und entweder eine körperliche Verletzung oder intensives physisches oder psychisches Leiden verursacht hat. Beim Begriff der erniedrigenden Behandlung steht das Element der Demütigung oder Entwürdigung im Vordergrund, wobei die Grenzen zwischen der unmenschlichen und der erniedrigenden Behandlung fließend sind (vgl. VG Freiburg, Urt. v. 08.09.2020 - A 8 K 10988/17 -, juris Rn. 19 m.w.N.). Die von der Klägerin geschilderten und befürchteten schweren körperlichen und seelischen Misshandlungen durch ihren Ehemann erfüllen den Tatbestand von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Sie waren vorsätzlich, grausam und erniedrigend.
Die Gewährung subsidiären Schutzes setzt voraus, dass dem Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 11.03.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 89 m.w.N.). Das ist vorliegend der Fall. [...]
Die Vermutung, dass die Klägerin im Fall der Rückkehr in die Ukraine von ihrem Ehemann erneut unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden würde, ist nach den Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls nicht widerlegt. Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist der tatsächliche Zielort der Klägerin bei einer Rückkehr. Das in der Regel der Herkunftsort, in den der Ausländer typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 13), hier also .... Es gibt keine tatsächlichen Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Mann der Klägerin seine Haltung zu ihr inzwischen geändert hätte und damit einverstanden wäre, dass sie von ihm getrennt lebt. Es ist also damit zu rechnen, dass der Mann der Klägerin unter Anwendung von Gewalt und Drohungen dafür sorgen würde, dass sie wieder in seinen Haushalt einzieht und sie weiter körperlich und seelisch misshandeln würde, wie es auch in der Vergangenheit geschehen ist.
bb) Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz ist nicht nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylG ausgeschlossen. Nach diesen Vorschriften kann vom Staat Schutz vor einem ernsthaften Schaden geboten werden, sofern er willens und in der Lage ist, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten. [...]
Es kann für diese Entscheidung dahinstehen, ob der ukrainische Staat generell willens und in der Lage ist, wirksamen Schutz gegen Fälle von häuslicher Gewalt zur Verfügung zu stellen. Das Gericht geht dabei von folgendem Sachverhalt aus (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (11.02.2021): Länderinformation der Staatendokumentation Ukraine; UNHCHR (01.12.2020): Impact of Covid-19 on Human Rights in Ukraine; Schweizerische Flüchtlingshilfe (01.05.2020): Ukraine: Häusliche Gewalt; UK Home Office (11.05.2018): Country Policy and Information Note: Ukraine: Gender-based violence):
Häusliche Gewalt gegen Frauen ist in der Ukraine ein ernstes Problem und weit verbreitet. Nach verschiedenen Einschätzungen erfahren etwa ein Viertel aller ukrainischen Frauen in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt. Nach Einschätzung der UNO sterben in der Ukraine jedes Jahr etwa 600 Frauen an Gewaltakten. Übergriffe werden nur in seltenen Fällen bei der Polizei gemeldet. Die UNO schätzt, dass sich nur etwa 30 Prozent der Opfer an die Polizei wenden. Der staatliche Schutz gegen häusliche Gewalt ist unvollkommen. Die Ukraine hat das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt bisher nicht ratifiziert. Im Januar 2018 trat erstmals ein Gesetz in Kraft, das häusliche Gewalt als eigenen Straftatbestand kriminalisiert und die Strafandrohungen für sexuelle Straftaten in der Ehe erhöht. Im September 2019 wurden spezifische Polizeieinheiten gegen häusliche Gewalt eingerichtet. Gleichwohl wird in der Praxis durch die Polizei nicht immer ein angemessener Schutz gewährleistet. Polizei und Gerichte betrachten häusliche Gewalt oft nicht als schweres Verbrechen, sondern als eine private Angelegenheit, die zwischen Ehepartnern zu regeln sei. Andererseits ist festzustellen, dass es nach Anzeigen auch häufig zu Verwarnungen, Schutzanordnungen und Anklagen kommt und sich nach Einschätzung von verschiedenen Menschenrechtsgruppen die Lage allmählich verbessert. Die COViD-19-Pandemie hat jedoch zu einem Ansteigen von Fällen häuslicher Gewalt geführt.
Das Gericht geht jedenfalls davon aus, dass die Klägerin einen Schutz des ukrainischen Staates nicht in Anspruch nehmen könnte, weil sie nach den konkreten Umständen des Einzelfalls keinen Zugang zu diesem Schutz hätte (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a i.V.m. § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG). [...]
Das Niveau der Schutzgewährung muss auch im jeweiligen Einzelfall ausreichend sein (Huber/Mantel, AufenthG, 3. Aufl. 2021, § 3d AsylG. Rn. 8). Das lässt sich hier nicht annehmen. Wegen der - zum Teil auch herausgehobenen - Tätigkeit der Schwiegereltern der Klägerin für die ukrainische Polizei und deren eigene Verstrickung in die Misshandlungen der Klägerin ist davon auszugehen, dass diese verhindern würden, dass die Polizei gegen ihren Sohn vorgeht und die Klägerin schützt.
cc) Auch § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG steht der Zuerkennung des subsidiären Schutzes nicht entgegen. [...]
Es muss nicht geklärt werden, ob es der Klägerin angesichts ihres Gesundheitszustandes möglich ist, außerhalb ihrer Herkunftsregion in der Ukraine eine zumutbare Existenz aufzubauen. Es bestehen jedenfalls keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass die Klägerin dort der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung durch ihren Ehemann entgehen könnte, weil dieser ein Getrenntleben akzeptieren und sie nicht gewaltsam in seinen Haushalt zurückholen würde. Die Klägerin hat zu Recht darauf verwiesen, dass sie in der Ukraine auf staatliche Leistungen angewiesen wäre und sich deshalb an ihrem neuen Wohnort registrieren lassen müsste (vgl. Auswärtiges Amt (29.02.2020), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, S. 20). Dann müsste sie befürchten, dass ihre Schwiegereltern ihre neue Anschrift in Erfahrung bringen könnten. Es gibt in der Ukraine ein zentrales Melderegister beim Staatlichen lvligrationsdienst, auf das die Polizei Zugriff hat (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (09.01.2019): Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Ukraine, S. 59). Der Klägerin ist auch nicht zumutbar, in der Ukraine keine Verbindung zu ihrem bei seinem Vater lebenden Sohn aufzunehmen. Auch deswegen würde ihre Rückkehr in die Ukraine und ihr neuer Aufenthaltsort ihrem Ehemann voraussichtlich bekannt werden. [...]