VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 02.06.2021 - 2 K 1643/21.GI.A - asyl.net: M29722
https://www.asyl.net/rsdb/m29722
Leitsatz:

Kein Flüchtlingsschutz für Wehrdienstverweigerer aus Syrien:

1. Der Asylfolgeantrag eines syrischen Wehrdienstverweigerers kann ohne das Hinzutreten weiterer individueller Verfolgungsgründe nicht auf das Urteil des EuGH zum Wehrdienst in Syrien gestützt werden. Der Asylfolgeantrag wurde vom Bundesamt zu Recht als unzulässig abgelehnt.

2. Der Antrag wäre im Übrigen auch unbegründet, denn Personen, die sich durch die Flucht ins Ausland dem Wehrdienst entzogen haben, droht bei Rückkehr keine politische Verfolgung . Möglicherweise drohende Verfolgungshandlungen knüpfen nicht an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund an.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Asylfolgeantrag, EuGH, Änderung der Sach- und Rechtslage, Änderung der Rechtslage, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Verfolgungsgrund, politische Verfolgung, Asylrelevanz, Verknüpfung, Verfolgungshandlung, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Wehrdienstverweigerung, Flüchtlingsanerkennung, Kriegsverbrechen, oppositionelles Gebiet, Herkunftsregion, unverhältnismäßige Strafverfolgung, Strafverfolgung wegen Verweigerung von völkerrechtswidrigem Militärdienst, Kurden,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 2 Bst. e, RL 2011/95/EU Art. 10, RL 2011/95/EU Art. 12, AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3b, AsylG § 71, VwVfG § 51
Auszüge:

M29722, VG Gießen, Urteil vom 02.06.2021 - 2 K 1643/21.GI.A

Kein Flüchtlingsschutz für Wehrdienstverweigerer aus Syrien:

1. Der Asylfolgeantrag eines syrischen Wehrdienstverweigerers kann ohne das Hinzutreten weiterer individueller Verfolgungsgründe nicht auf das Urteil des EuGH zum Wehrdienst in Syrien gestützt werden. Der Asylfolgeantrag wurde vom Bundesamt zu Recht als unzulässig abgelehnt.

2. Der Antrag wäre im Übrigen auch unbegründet, denn Personen, die sich durch die Flucht ins Ausland dem Wehrdienst entzogen haben, droht bei Rückkehr keine politische Verfolgung . Möglicherweise drohende Verfolgungshandlungen knüpfen nicht an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund an.

(Leitsätze der Redaktion)
Schlagwörter: Syrien, Asylfolgeantrag, EuGH, Änderung der Sach- und Rechtslage, Änderung der Rechtslage, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Verfolgungsgrund, politische Verfolgung, Asylrelevanz, Verknüpfung, Verfolgungshandlung, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Wehrdienstverweigerung, Flüchtlingsanerkennung, Kriegsverbrechen, oppositionelles Gebiet, Herkunftsregion, unverhältnismäßige Strafverfolgung, Strafverfolgung wegen Verweigerung von völkerrechtswidrigem Militärdienst, Kurden,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 2 Bst. e, RL 2011/95/EU Art. 10, RL 2011/95/EU Art. 12, AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3b, AsylG § 71, VwVfG § 51

[...]

Die vom Kläger angeführte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (U. v. 19.11.2020 - C-238/19 -, BeckRS 2020, 31285 Rn. 59) stellt-zumal als Einzelfallentscheidung ergangen und deshalb nicht pauschal auf sämtliche Syrer übertragbar - bereits dem Grunde nach keine Änderung der Sach- oder Rechtslage i.S.d. §51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dar.

Die Änderung der Rechtslage erfordert, dass sich das einschlägige materielle Recht, dem eine allgemeinverbindliche Außenwirkung zukommt, nachträglich zugunsten des Antragstellers geändert hat (BVerwG, U. v. 27.01.1994 - 2 C 12.92 -, NVwZ 1995, 388), also die für den bestandskräftigen Verwaltungsakt maßgeblichen Rechtsnormen, mithin dessen entscheidungserhebliche rechtliche Grundlagen, sich nachträglich geändert haben (BVerwG, U. v. 13.08.2020 - 1 C 23.19 -, BeckRS 2020, 24280). Ebenso führt die Änderung der Rechtsprechung grundsätzlich nicht zu einer Änderung der Rechtslage (stRspr, BVerwG, U. v. 13.08.2020 - 1 C 23.19 -, BeckRS 2020, 24280; U. v. 11.09.2013 - 8 C 4.12 -, BeckRS 2013, 58563 = ZOV 2013, 177; B. v. 7.7.2004 - 6 C 23.03 -, MMR 2005, 300; B. v. 24.05.1995 - 1 B 60/95 -, NVwZ 1995, 1 097; B. v. 16.02.1993 - 9 B 241/92 -, NVwZ-RR 1994, 119; VGH München, B. v. 03.01.2019 - 4 ZB 17.2419 -, BeckRS 2019, 256; B. v. 28.03.2018 - 14 ZB 16.2354 -, BeckRS 2018, 6991; VGH Kassel, U. v.14.09.1994 - 1 UE 3835/88 -, NVwZ 1995, 394); auch nicht die Rechtsprechung des BVerfG, EuGH oder des EGMR (BVerwG, B. v. 17.10.2012 - 8 B 63.12 -, BeckRS 2012, 59191; U. v. 22. 10. 2009 - 1 C 26/08 -, NVwZ 2010, 652; U. v. 17.01.2007 - 6 C 32/06 -, NVwZ 2007, 709; VGH Mannheim, U. v. 30.04.2008 - 11 S 759/06 -, BeckRS 2008, 38173). Dies gilt auch für höchstrichterliche Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung, die Ausdruck einer neuen allgemeinen Rechtsauffassung sind (hierzu insg. Falkenbach, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, §51 Rn. 37).

Soweit der Kläger mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 27. April 2021 unter Verweis auf eine weitere Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (U. v. 14.05.2020 - C-924/19 PPU u. C-925/19 PPU -, ZAR 2020, 438) anführt, eine veränderte Rechtslage könne auch durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs eintreten, wenn die Ablehnung des Asylerstantrages unionsrechtswidrig ergangen ist, ist dies unerheblich, denn selbst unter Berücksichtigung der erstgenannten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs hätte der Kläger ebenfalls keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte ihm die Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG zuerkennt, denn die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür liegen (weiterhin) nicht vor. [...]

Die in den zuletzt genannten Quellen beschriebene aktuelle Tendenz, Wehrdienstentzieher und Deserteure eher straflos zu stellen und mit Hilfe finanzieller Angebote freiwillige Syrer anzuwerben, schlägt sich auch in der neueren syrischen Verwaltungspraxis nieder. Vor dem Hintergrund einer verbesserten militärischen Lage und der Tatsache, dass etwa zwei Drittel der syrischen Bevölkerung wieder in Gebieten lebt, die vom Regime kontrolliert werden (AA-Lagebericht v. 04.12.2020, S. 6; Danish Immigration Service v. October 2020, Country Report Syria, S. 5), hat die syrische Regierung hinsichtlich des Militärdienstes verschiedene, einer Normalisierung dienende Maßnahmen ergriffen. [...]

Dem Gericht liegen keine konkreten Hinweise vor, dass diese versöhnliche Haltung nur vorgeschoben wäre. Es gibt auch keinen konkreten Anhalt dafür, dass die syrischen staatlichen Stellen den Amnestie-Erlass Nr. 18/2018 bei einer - wie nach Lage der Dinge zu erwartenden - für den syrischen Staat weiterhin günstigen militärischen Lage nicht beachten werden. Zwar äußerten sich Christopher Kozak und Sara Kayyali gegenüber den Delegierten des Dänischen Einwanderungsdienstes und des Dänischen Flüchtlingsrates dahingehend, dass Syrer bezüglich der Umsetzung dieses Amnestieerlasses skeptisch seien, weil sich frühere Erlasse und Versöhnungsvereinbarungen als ineffektiv und von der Regierung unbeachtet erwiesen hätten. In dieses Bild passen auch die Ausführungen im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 4. Dezember 2020 (S. 30 f.), wonach das syrische Regime im Rahmen sogenannter "Versöhnungsabkommen" in den vom syrischen Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert, diese aber in zahlreichen Fällen, zuletzt nach der Einnahme des Südwestens Syriens, nicht eingehalten habe. [...]

Ungeachtet dessen würde eine gleichwohl nicht völlig auszuschließende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung für sich allein genommen und ohne das Hinzutreten weiterer Umstände nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen, weil sie Ausfluss einer allgemeinen staatsbürgerlichen Pflicht ist, deren Erfüllung grundsätzlich auch totalitäre Staaten von ihren Staatsbürgern einfordern können (VGH Mannheim, U. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/18 -, BeckRS 2018, 27342). Sollte es zu einer Strafverfolgung kommen, stellen die zu erwartenden Strafen als solche eine auch im Hinblick auf ihre Höhe nicht zu beanstandende ordnungsrechtliche Sanktion für die Verletzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht dar (VGH Mannheim, U. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/18 -, BeckRS 2018, 27342 Rn. 33; OVG Lüneburg, U. v. 18.5.2018 - 2 LB 172/18 -, BeckRS 2018, 9276 Rn. 76 ff.). Die Strafandrohung für Wehrdienstentziehung als solche im Bereich von bis zu fünf Jahren ist nicht unverhältnismäßig im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG. Die Fahnenflucht wird auch in Deutschland nach § 16 WStG mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft (den Vergleich ablehnend VGH Kassel, U. v. 26.07.2018 - 3 A 809/18.A -, BeckRS 2018, 18158 Rn. 53).

Die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen stellen nur dann eine flüchtlingsrechtliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (EuGH, U. v. 19.11.2020 - C-238/19 -, BeckRS 2020, 31285 Rn. 39 ff.; BVerwG, B. v. 24.04.2017 - 1 B 22.17 -, NVwZ 2017, 1204; U. 19.08.1986 - 9 C 322.85 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 54; U. v. 25.06.1991 - 9 C 131.90 -, Buchholz 402.25 § 2 AsylVfG Nr. 21 ). Insoweit ist die Plausibilität der Verknüpfung zwischen den in§ 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und der Strafverfolgung und Bestrafung zu prüfen (vgl. EuGH, U. v. 19.11.2020 - C-238/19 -, BeckRS 2020, 31285 Rn. 56).

Der früher für das Herkunftsland Syrien zuständige 3. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs sah eine solche Verknüpfung als gegeben. Nach seiner Auffassung sollen die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen politischer Art sein, weil jedem Wehrdienstentzieher eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellt werde (stRspr VGH Kassel, u.a. U. v. 26.07.2018 - 3 A 403/18.A -, BeckRS 2018, 18170; U. v. 26.07.2018 - 3 A 809/18.A -, BeckRS 2018, 18158).

Das erkennende Gericht schließt sich dieser Auffassung - auch auf Grund der oben dargestellten veränderten Lage - nicht mehr an und folgt insoweit aus eigener Überzeugung der Rechtsprechung der überwiegenden Zahl der Oberverwaltungsgerichte [...]