VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 04.05.2021 - 1 K 1102/21.TR - asyl.net: M29723
https://www.asyl.net/rsdb/m29723
Leitsatz:

EuGH-Entscheidung zu syrischen Wehrdienstentziehern kein Grund für Asylfolgeantrag::

"Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 - C-238/19 - [asyl.net: M29016] stellt keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 71 Abs. 1 AsylG (juris: AsylVfG 1992) i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG dar (Rn.23)."

(Amtlicher Leitsatz; unter Bezug auf VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.12.2020 - A 4 S 4001/20 (Asylmagazin 1-2/2021, S. 31 f.) - asyl.net: M29155 und VG Stuttgart, Urteil vom 04.03.2021 - A 7 K 244/19 (Asylmagazin 5/2021, S. 174 f.) - asyl.net: M29485)

Siehe auch:

  • Beitrag von Constantin Hruschka, Asylmagazin 5/2021, S. 148 ff.
Schlagwörter: Syrien, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Asylfolgeantrag, Änderung der Sach- und Rechtslage, EuGH, Änderung der Rechtslage, Verfolgungsgrund, politische Verfolgung, Asylrelevanz, Verknüpfung, Verfolgungshandlung, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Kriegsverbrechen, unverhältnismäßige Strafverfolgung, völkerrechtswidriger Militärdienst, Wehrdienstverweigerung,
Normen: AsylG § 71 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

22 Auch stellt das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 19. November 2020 - C-238/19 - keine Änderung der Sachlage dar. Dieses beinhaltet die Auslegung unionsrechtlicher Normen - hier: der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) - im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV. Diese ist zwar grundsätzlich geeignet, die rechtliche Würdigung eines Sachverhalts zu beeinflussen; eine Veränderung der tatsächlichen Umstände geht damit indes nicht einher (vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. April 2021 - 14 A 818/19.A -, juris Rn. 48ff.).

23 2. Der Kläger kann sich auch nicht auf eine veränderte Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG berufen. Insbesondere stellt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 - C-238/19 - eine solche nicht dar.

24 a. Erforderlich hierfür ist, dass sich das einschlägige materielle Recht, dem eine allgemeinverbindliche Außenwirkung zukommt, nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Januar 1994 - 2 C 12.92 -, juris), also die für den bestandskräftigen Verwaltungsakt aus dem früheren Asylverfahren maßgeblichen Rechtsnormen, d.h. dessen entscheidungserhebliche rechtliche Grundlage, einer nachträglichen Änderung unterworfen gewesen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. August 2020 - 1 C 23.19 -, juris), die nunmehr eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert oder zumindest ermöglicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2018 - 1 C 26.17 -, juris Rn. 18 m.w.N)

25 b. Eine solche Änderung des materiellen Rechts vermag die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes weder abstrakt noch im konkreten Einzelfall zu begründen. Jedenfalls führt diese aber nicht zu einer möglicherweise günstigeren Entscheidung für den Kläger.

26 aa. Veränderungen der Rechtsprechung führen eine Änderung der Rechtslage grundsätzlich nicht herbei. Gegenstand der gerichtlichen Entscheidungsfindung ist und bleibt ausschließlich die rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung. Rechtsprechende Tätigkeit ist aufgrund des rechtsstaatlichen Verfassungsgefüges grundsätzlich nicht geeignet oder darauf angelegt, die Rechtsordnung konstitutiv und allgemeingültig zu verändern (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. November 2020 - 2 B 1.20 -, juris Rn. 8 m.w.N.). Dies gilt auch für Änderungen einer höchstrichterlichen Entscheidungspraxis (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 -, juris Rn. 17). [...]

29 bb. Ausgehend hiervon stellt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 - C-238/19 - keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 71 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG dar (vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 12. April 2021 - 14 A 818/19.A -, juris Rn. 5). [...]

31 Urteilen des Gerichtshofes im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 Abs. 1 AEUV kommt eine direkte Bindungswirkung außerhalb des Ausgangsverfahrens ("erga omnes") nur dann zu, wenn der Gerichtshof die Ungültigkeit von Unionsrecht oder einer sonstigen Organhandlung festgestellt hat (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Mai 1981 - Rs. 66/80 [International Chemical], juris Rn. 13; Wegener, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 267 AEUV Rn. 50). In diesen Fällen sind die Unionsorgane, Einrichtungen und sonstigen Stellen analog Art. 266 AEUV verpflichtet, die sich aus dem Urteil ergebenden, erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Dasselbe gilt auch in Bezug auf die innerstaatlichen Behörden sowie die innerstaatlichen Gerichte (vgl. EuGH, Beschluss vom 8. November 2007 - C-421/06 [Fratelli Martini] -, juris Rn. 52 ff.). Entscheidungen über die Auslegung von Unionsrecht entfalten für Gerichte und Behörden außerhalb des Ausgangsrechtsstreits demgegenüber eine nur eingeschränkte erga omnes-Wirkung (vgl. Karpenstein, Das Recht der Europäischen Union, Stand: August 2020, Art. 267 AEUV, Rn. 104). Sie erläutern, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite eine Unionsvorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre (stRspr., vgl. nur: EuGH, Urteil vom 6. März 2007 - C-292/04 [Meilicke] -, juris Rn. 34, m.w.N.). Damit ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in derartigen Verfahren auch nach dem eigenen Selbstverständnis nicht konstitutiver, sondern rein deklaratorischer Natur. Das Bundesverwaltungsgericht, dem sich die erkennende Kammer anschließt, hat hierzu bereits im Jahr 2009 ausgeführt:

32 "Eine Änderung der Rechtsprechung führt eine Änderung der Rechtslage grundsätzlich nicht herbei. Vielmehr bleibt die gerichtliche Entscheidungsfindung grundsätzlich eine rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung (vgl. Urteil vom 27. Januar 1994 - BVerwG 2 C 12.92 - BVerwGE 95, 86 <89>). Das ist nicht nur für die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, sondern auch für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anerkannt (vgl. Beschluss vom 24. Mai 1995 - BVerwG 1 B 60.95 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 32), gilt aber auch für Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, dessen Rechtsprechung in Vorabentscheidungsverfahren nach dem eigenen Selbstverständnis nicht konstitutiver, sondern rein deklaratorischer Natur ist (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008 - Rs. C-2/06, Kempter - Slg. 2008, I-00411 Rn. 35)." (BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009 - 1 C 26.08 -, juris Rn. 16).

33 (2) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 40 Abs. 2 der Asylverfahrensrichtlinie und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, insbesondere dem durch den Kläger zur Begründung seines Begehrens zitierten Urteil vom 14. Mai 2020 - C-924/19, C-925/19 [ungarische Transitzonen] -. Diesem Urteil lag dabei eine Konstellation zugrunde, in der eine nationale Regelung (Art. 52 Abs. 2 lit. f) des ungarischen Asylgesetzes) gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht verstieß und es daher jeder nationalen Behörde geboten war, die Regelung unangewendet zu lassen (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 - C-924/19, C-925/19 [ungarische Transitzonen] -, juris Rn. 183 m.w.N.).

34 Insoweit hat der Europäische Gerichtshof zwar entschieden, dass ein Urteil des Gerichtshofes eine "neue Erkenntnis" im Sinne des Art. 33 Abs. 2 lit. d) der Asylverfahrensrichtlinie, die die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens rechtfertigt, darstellen kann. Dies gilt jedoch ausschließlich für Fälle, in denen - wie im dortigen Verfahren - in dem betreffenden Urteil die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht festgestellt wird, die für die dem Erstantrag zugrundeliegende Entscheidung entscheidungserheblich war (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 - C-924/19, C-925/19 [ungarische Transitzonen] -, juris Rn. 194). Nur wenn die Unionsrechtswidrigkeit der Erstentscheidung feststeht, darf ein Folgeantrag nicht als unzulässig abgelehnt werden, da sich andernfalls die fehlerhafte Anwendung von Unionsrecht mit jedem neuen Antrag auf internationalen Schutz wiederholen könnte, ohne dass gewährleistet wäre, dass der Asylantrag des Antragstellers ohne Verstoß gegen Unionsrecht geprüft wird (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 - C-924/19, C-925/19 [ungarische Transitzonen] -, juris Rn. 197). Erforderlich ist insoweit, dass die Unionsrechtswidrigkeit der konkreten Erstentscheidung durch nationale Behörden festgestellt wird oder sich diese aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes unmittelbar ergibt oder von einem nationalen Gericht inzident festgestellt wird (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 - C-924/19, C-925/19 [ungarische Transitzonen] -, juris Rn. 198).

35 Eine solche Feststellung der Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit vorrangigem Unionsrecht lässt sich der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 19. November 2020 - C-238/19 - indes nicht entnehmen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. April 2021 - 14 A 818/19.A - juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Dezember 2020 - A 4 S 4001/20 -, juris Rn. 13; VG Stuttgart, Urteil vom 4. März 2021 - A 7 K 244/19 -, juris Rn. 29). Vielmehr hat der Gerichtshof eine umfassende Auslegung des Art. 9 Abs. 2 lit. e) der Qualifikationsrichtlinie vorgenommen, der die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt als Verfolgungshandlung definiert, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die den Tatbestand von Kriegsverbrechen erfüllen. [...]

37 (3) Selbst wenn man indes zu dem Ergebnis gelangen würde, dass mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 - C-238/19 - inzident die Unionsrechtswidrigkeit einer bestimmten Auslegung des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG festgestellt worden wäre, würde das Unionsrecht im Falle des Klägers nicht die Wiederaufnahme seines Asylverfahrens bzw. die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gebieten. [...]

39 Nach dem unionsrechtlichen Grundsatz der Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) soll die Behörde daher nur verpflichtet sein, ihre Entscheidung zu überprüfen und eventuell zurückzunehmen, wenn vier Voraussetzungen erfüllt sind: Die Behörde muss erstens nach nationalem Recht befugt sein, die Entscheidung zurückzunehmen. Die Entscheidung muss zweitens infolge des Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden sein. Das Urteil muss, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofs zeigt, drittens auf einer unrichtigen Auslegung des Unionsrechts beruhen, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Art. 267 Abs. 3 AEUV erfüllt war. Der Betroffene muss sich viertens, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der Entscheidung des Gerichtshofs erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt haben (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 - C-924/19, C-925/19 [ungarische Transitzonen] -, juris Rn. 187, unter Verweis auf: EuGH, Urteil vom 13. Januar  004 - C-453/00 [Kühne & Heitz] - juris Rn. 28; EuGH, Urteil vom 19. September 2006 - C-392/04 und C-422/04 [ i-21 Germany und Arcor] - juris Rn. 52).

40 Im Falle des Klägers sind jedenfalls die zweite und die dritte der genannten Voraussetzungen nicht erfüllt. Der im Asylerstverfahren ergangene Bescheid vom 1. September 2016 - ...-475 - ist nicht infolge des Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden, sondern durch das nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 7. März 2017 - 1 K 5811/16.TR -. Entsprechend ist auch kein Verstoß gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV feststellbar, auf der die unrichtige Auslegung des Unionsrechts - eine solche unterstellt - beruhen würde. Diese Vorlagepflicht trifft nur ein Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können (vgl. Karpenstein, Das Recht der Europäischen Union, Stand: August 2020, Art. 267 AEUV, Rn. 51-53). Die letzte Instanz des nationalen Verwaltungsrechtswegs hat der Kläger, dessen Klage in Ermangelung eines Antrags auf Zulassung der Berufung (§ 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG) bereits in erster Instanz rechtskräftig abgewiesen wurde, nicht erreicht, so dass der innerstaatliche Rechtsweg nicht erschöpft worden ist.

41 cc. Jenseits dessen bestehen auch Zweifel daran, ob sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 19. November 2020 - C-238/19 - überhaupt eine konkrete Änderung im Vergleich zur bisherigen Rechtslage ergibt.

42 Vielmehr handelt es sich bei der Entscheidung um sehr punktuelle, überwiegend mit der bisherigen Auslegung der Richtlinie übereinstimmende Ausführungen, die weder für jedes Asylbegehren eines syrischen Wehrdienstverweigerers von Bedeutung sind noch im Falle der Entscheidungserheblichkeit das Ergebnis präjudizieren. Selbst wenn die "starke Vermutung" für eine Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 2 lit. e) der Qualifikationsrichtlinie und den in Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie genannten fünf Verfolgungsgründen eingreift, hängt ein (vollständiger) Erfolg des Asylbegehrens weiterhin von einer Prüfung der Plausibilität der Verknüpfung in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände ab (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 -, juris Rn. 61) und führt daher gerade nicht gleichsam automatisch zur Unionsrechtswidrigkeit der im Erstverfahren ergangenen Entscheidung (vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. April 2021 - 14 A 818/19.A - juris Rn. 68; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Dezember 2020 - A 4 S 4001/20 -, juris Rn. 13).

43 Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass infolge des Urteils des Gerichtshofes die deutschen Verwaltungsgerichte - sofern sie bislang darüber entschieden haben - überwiegend ihre bisherige Rechtsprechung zu der Frage, ob Wehrdienstverweigerern eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung in Syrien droht, beibehalten haben [...]