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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 27.04.2021 - 1 C 45.20 (Asylmagazin 10-11/2021, S. 386 ff.) - asyl.net: M29731
https://www.asyl.net/rsdb/m29731
Leitsatz:

Regelausschluss des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten bei nicht im Herkunftsland geschlossener Ehe grundsätzlich zulässig:

1. Eine Ehe ist nicht im Sinne des Regelausschlussgrundes des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG "vor der Flucht" geschlossen, wenn sie erst nach Verlassen des Herkunftslandes eingegangen wurde (anschließend an BVerwG, Urteil vom 17.12.2020 - 1 C 30.19 (Asylmagazin 4/2021, S. 135 ff.) - asyl.net: M29408).

2. Der durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz vom 12. Juli 2018 eingeführte Ausschlussgrund findet auch Anwendung auf Ehen, die bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes geschlossen wurden. Dies stellt keine mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbare echte Rückwirkung, sondern eine zulässige unechte Rückwirkung dar.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, Ehegattennachzug, subsidiärer Schutz, Schutz von Ehe und Familie, Regelausschluss, Familieneinheit, Übergangsregelung, Rückwirkung, Eheschließung,
Normen: EMRK Art. 8, GG Art. 3, GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 6 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 22 S. 1, AufenthG § 36 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 36a Abs. 1, AufenthG § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 104 Abs. 13, AufenthG § 36a Abs. 3 S. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

10 Die (Sprung-)Revision ist nicht begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts beruht nicht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG auf der Grundlage weder des § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG (1.) noch des § 22 Satz 1 AufenthG (2.) noch des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG (3.).

14 1.1 Ohne Verstoß gegen § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Ehe der Klägerin nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde, weil sie erst nach Verlassen des Herkunftslandes eingegangen wurde (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2020 - 1 C 30.19 - juris Rn. 14 ff.).

15 Die Differenzierung zwischen Ehen, die vor, und solchen, die nach dem Verlassen des Herkunftslandes geschlossen wurden, knüpft mit der Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung dem Grunde nach an ein taugliches Differenzierungskriterium für die Ausgestaltung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten an; insoweit steht die Norm mit höherrangigem Recht, insbesondere mit Art. 6 Abs. 1 GG (a) und Art. 3 Abs. 1 GG (b) sowie mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rückwirkungsverbot (c) jedenfalls unter Berücksichtigung der von dem Regelausschlussgrund belassenen Möglichkeit einer Ausnahme im Einklang. Die vorstehenden Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze sind völkerrechtsfreundlich auszulegen. Hierbei sind insbesondere auch die Europäische Menschenrechtskonvention und sonstige völkerrechtliche Vertragswerke wie der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl. 1973 II S. 1533) (IPbpR) heranzuziehen (BVerfG, Urteil vom 12. Juni 2018 - 2 BvR 1738/12, 1395/13, 1068/14 und 646/15 - BVerfGE 148, 296 Rn. 126 ff. und Beschluss vom 29. Januar 2019 - 2 BvC 62/14 - BVerfGE 151, 1 Rn. 61 f.). Diese Pakte gewähren keine selbstständigen, hier über die grundrechtlich geschützten Positionen hinausgehenden Nachzugsansprüche.

16 a) § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG begegnet im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK keinen durchgreifenden Bedenken, zumal dem Grundrechtsschutz von Ehe und Familie erforderlichenfalls durch die Annahme eines Ausnahmefalles Rechnung getragen werden kann (dazu s. unten unter 1.2). [...]

21 b) Die in § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG angelegte Ungleichbehandlung von vor und nach dem Verlassen des Herkunftslandes geschlossenen Ehen steht bei verfassungskonformer Auslegung und Anwendung nur auf Regelfälle auch im Einklang mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG wie auch mit Art. 20 GRC, der gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt. [...]

27 c) Dass der Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG auch auf bereits vor seinem Inkrafttreten geschlossene Ehen Anwendung findet, stellt auch keine mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbare echte Rückwirkung, sondern eine zulässige unechte Rückwirkung dar.

28 Eine unechte Rückwirkung liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet, etwa, wenn belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden ("tatbestandliche Rückanknüpfung"). Normen mit unechter Rückwirkung sind verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig. Allerdings können sich aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Grenzen ihrer Zulässigkeit ergeben. Diese Grenzen sind indes erst überschritten, wenn die von dem Gesetzgeber angeordnete unechte Rückwirkung zur Erreichung des Gesetzeszwecks nicht geeignet oder nicht erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2020 - 1 BvR 1679/17, 2190/17 - juris Rn. 127 ff.). Für die Gewichtung der Gründe des Gesetzgebers bleibt von Bedeutung, dass Normen mit unechter Rückwirkung grundsätzlich zulässig sind, gerade weil der Gesetzgeber einen weiten Spielraum benötigt, um in demokratischer Verantwortung seinen Gemeinwohlverpflichtungen gerecht werden zu können (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2020 - 1 BvR 1679/17, 2190/17 - juris Rn. 131 f.).

29 Daran gemessen durfte der Gesetzgeber das gesetzliche Ziel, einer Überforderung der Aufnahme- und Integrationssysteme von Staat und Gesellschaft durch den Nachzug einer Mehrzahl von Familienangehörigen der in den zurückliegenden Jahren aufgenommenen Schutzberechtigten vorzubeugen, höher gewichten als deren etwaiges Vertrauen auf die Ermöglichung eines Nachzugs auch in Fällen einer Eheschließung nach Verlassen des Herkunftslandes. Jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung stellt § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG sicher, dass einem schutzwürdigen Interesse der Betroffenen an einem Unterbleiben der tatbestandlichen Rückanknüpfung angemessen über die Annahme einer Ausnahme von dem Regelausschlussgrund, in besonderen Härtefällen auch durch eine Aufnahme aus dem Ausland nach § 36a Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 22 Satz 1 AufenthG Rechnung getragen werden kann.

30 1.2 Der besondere Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK gebietet es, das Interesse der Angehörigen der Kernfamilie des subsidiär Schutzberechtigten an der (Wieder-)Herstellung ihrer familiären Lebensgemeinschaft bereits bei der Prüfung einer Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG und damit schon im Vorfeld unmittelbar aus der Verfassung ableitbarer Nachzugsansprüche zu berücksichtigen.

31 Spezifisch ehe- und familienbezogene Gesichtspunkte sind somit nicht erst im Rahmen des gemäß § 36a Abs. 1 Satz 4 AufenthG unberührt bleibenden § 22 Satz 1 Alt. 2 AufenthG, sondern zuvörderst innerhalb des § 36a AufenthG und dort nicht allein bei der Auslegung der humanitären Gründe des § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, sondern gerade auch bei der Prüfung einer Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG zu berücksichtigen, um die Reichweite dieses Regelausschlussgrundes auch in Umfang und Maß auf ein Maß zu beschränken, das die grundsätzlich gerechtfertigten Beschränkungen angemessen mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG in Einklang bringt. Allein ein solches Verständnis stellt zudem sicher, dass ein Nachzug der betreffenden Angehörigen grundsätzlich der Kontingentierung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten zum Zwecke des § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG unterfällt.

32 Im Einklang mit den unter 1. 1.1 a) ausgeführten Maßstäben ist für die Beantwortung der Frage, ob die aus Art. 6 Abs. 1 GG folgende Berücksichtigungspflicht es im Einzelfall gebietet, eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG anzunehmen, von maßgeblicher Bedeutung, ob den Eheleuten erstens eine Fortdauer der räumlichen Trennung zumutbar und ob ihnen zweitens eine Wiederaufnahme der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des den Nachzug begehrenden Ehegatten möglich und zumutbar ist. Ist den Ehegatten eine (Wieder-)Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des Nachzugswilligen möglich und zumutbar, so übersteigen Wartezeiten von fünf Jahren bis zu einem Nachzug in das Bundesgebiet vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalles noch nicht das verfassungsrechtlich hinzunehmende Höchstmaß (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83, 101/84, 313/84 - BVerfGE 76, 1 <52 ff.>). Scheidet die Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des nachzugswilligen Ehegatten demgegenüber auf absehbare Zeit aus, gewinnen die humanitären Belange an der Wiederherstellung der Familieneinheit gerade im Bundesgebiet erhebliches Gewicht. Dies gilt jedenfalls in Fällen, in denen nicht aus den Umständen, etwa der für sich allein nicht ausschlaggebenden Ehebestandsdauer, zu folgern ist, dass eine Ehe ausschließlich zu dem Zweck geschlossen worden ist, etwaige Nachzugsmöglichkeiten zu eröffnen. Fehlt es an solchen besonderen Umständen des Einzelfalles, verringern sich mit zunehmender Trennungsdauer auch die Unterschiede zu den vor der Flucht geschlossenen Ehen und wächst das Gewicht der grundrechtlich geschützten Belange an einer - dann objektiv nur im Bundesgebiet möglichen - Familienzusammenführung. Jedenfalls bei Eheschließung vor der Einreise in das Unionsgebiet liegt ohne Hinzutreten besonderer, eine Verkürzung oder Verlängerung der Trennungszeiten bewirkender Umstände dann eine Ausnahme von dem Regelausschluss des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG regelmäßig bereits bei einer mehr als vierjährigen Trennung von dem Ehegatten vor. [...]

40 3. Die Klägerin hat überdies keinen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Sie ist - wie das Verwaltungsgericht im Ergebnis zutreffend entschieden hat - als Ehegattin eines subsidiär Schutzberechtigten, deren Nachzugsanspruch nach den §§ 28, 30 und 36a AufenthG ausdrücklich und in Bezug auf § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG abschließend geregelt ist, nicht "sonstige Familienangehörige" im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG (BT-Drs. 19/2438 S. 20 <zu Nr. 3 Buchst. c> und S. 21 <zu Nr. 4 Buchst. b>). Die ergänzende Anwendung auch der §§ 22, 23 AufenthG (§ 36a Abs. 1 Satz 4 AufenthG) erfasst etwaige Härtefälle und lässt keinen Raum für eine - direkte oder analoge - Anwendung dieser Regelung in besonderen Härtefällen oder zur Vermeidung eines Verstoßes gegen Konventions-, Unions- oder Verfassungsrecht. [...]