VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 26.06.2020 - AN 17 K 17.32236 - asyl.net: M29733
https://www.asyl.net/rsdb/m29733
Leitsatz:

Abschiebungsverbot hinsichtlich Jemen für vorerkrankten, eingeschränkt arbeitsfähigen und alleinstehenden Mann:

1. Durch Kirche ausgestellte Taufbescheinigung und damit Gültigkeit des Übertritts ist wegen Art. 4 GG und Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV nicht in Zweifel zu ziehen. Jedoch darf und muss das Tatsachengericht zur vollen Überzeugung feststellen, ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für die religiöse Identität des Betroffenen zentrale Bedeutung hat (Anschluss an BVerfG NVwZ 2020, 950)

2. Schlechte humanitäre Lage kann subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG begründen, wenn gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG ein Zurechnungszusammenhang zwischen den schlechten humanitären Bedingungen und den Handlungen eines Gefährdungsakteurs besteht.

3. Derzeit keine individuelle Gefährdung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG als Zivilperson bei Rückkehr nach Aden (Jemen).

4. Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für vorerkrankten, eingeschränkt arbeitsfähigen und alleinstehenden Mann wegen aktueller Lage im Jemen bejaht.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Jemen, subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot, humanitäre Gründe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Corona-Virus, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, AsylG § 4, AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

39 Allerdings besteht zwischen den geschilderten Zuständen und den Handlungen der Gefährdungsakteure gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG kein Zurechnungszusammenhang im Sinne eines zielgerichteten und bewussten Herbeiführens. Zwar ist der Jemen seit 2015 von einem nun schon Jahre andauernden schweren bewaffneten Konflikt hauptsächlich zwischen den durch den Iran unterstützten Huthi-Rebellen, die den westlichen, an das rote Meer grenzenden Landesteil inklusive der Stadt Sanaa beherrschen und der offiziellen jemenitischen Regierung, die durch eine von Saudi-Arabien angeführte Militärallianz unterstützt wird, erschüttert. Weitere Konfliktparteien sind die durch die Vereinigten Arabischen Emirate unterstützten südjemenitischen Separatisten sowie radikalislamische Milizen etwa des Islamischen Staates und Al-Qaida (detaillierter Überblick aller Einzelakteure und Bündnisse bei Staatssekretariat für Migration Schweiz, Focus Jemen, Juli 2016-März 2019, Stand 15.4.2019, S. 7 ff. und Anhang II "Kriegsallianzen"). Dieser bewaffnete Konflikt ist auch als ein kausaler Faktor für die Verschlechterung der Lebensbedingungen im Jemen anzusehen, der neben andere tritt, wie insbesondere das niedrige Einkommensniveau sowie langfristige Herausforderungen bei der Stabilisierung der Wirtschaft (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Jemen, Stand 16.12.2019, S. 34; s.a. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Yemen: Security and humanitarian situation, Stand Januar 2019, S. 20 f.). Allerdings sind die prekären humanitären Bedingungen "nur" als Kollateralschaden des intensiven bewaffneten Mehrparteienkonflikts anzusehen. Die Kampfhandlungen der Konfliktparteien zielen nicht auf eine Verschlechterung der Lebensbedingungen für die jemenitische Bevölkerung ab, sondern primär auf die territoriale und politische Vorherrschaft im Land (s. die Schilderung des Konfliktverlaufs bei Staatssekretariat für Migration Schweiz, Focus Jemen, Juli 2016-März 2019, Stand 15.4.2019, S. 11 ff. und Anhang I "Konfliktverlauf 2016-2019", S. 37 ff.), bringen aber als Begleiterscheinung massive Einschränkungen der Grundversorgung der Bevölkerung insbesondere mit Nahrungsmitteln und Gesundheitsdienstleistungen mit sich.

40 Damit fehlt es an einem Zurechnungszusammenhang zwischen schlechter humanitärer Lage und einem bewussten und zielgerichteten Handeln der Gefährdungsakteure im Sinne des § 4 Abs. 3, § 3c Nr. 1 und 2 AsylG. Ein subsidiärer Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG scheidet in allen Varianten aus.

41 c) Ebenso wenig ist der Kläger einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).

42 aa) Von einem internationalen bewaffneten Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist wohl nicht auszugehen, da mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten zwar die Streitkräfte anderer Länder in den Konflikt involviert sind, diese allerdings auf Seiten der offiziellen jemenitischen Regierung kämpfen und damit davon auszugehen ist, dass diese explizit um Hilfe gebeten bzw. sich die Streitkräfte der beiden Länder mit deren Zustimmung auf jemenitischem Boden befinden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Jemen, Stand 16.12.2019, S. 8; Schweiz, Focus Jemen, Juli 2016-März 2019, Stand 15.4.2019, Anhang II "Kriegsallianzen"). Die Huthi-Rebellen werden durch den Iran unterstützt, allerdings wird aus den Erkenntnismitteln nicht ersichtlich, ob und inwieweit iranische Kräfte direkt in den Konflikt eingreifen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Jemen, Stand 16.12.2019, S. 10 f.; Schweiz, Focus Jemen, Juli 2016-März 2019, Stand 15.4.2019, Anhang II "Kriegsallianzen").

43 Dass im Jemen ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und Art. 15 Buchst. c der RL 2011/95/EU (Anerkennungs-RL) herrscht, liegt hingegen nahe. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung des Art. 15 Buchst. c der Anerkennungs-RL ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt auszugehen, "wenn die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist" (EuGH, U.v. 30.1.2014 - Diakité, C-285/12 - NVwZ 2014, 573 Ls., Rn. 35). Mit den Huthi-Rebellen trifft eine bewaffnete Gruppe unter anderem auf die regulären Streitkräfte Jemens, weiter sind die südjementischen Separatisten und radikalislamische bewaffnete Gruppen wie der Islamische Staat oder Al-Qaida am Konflikt beteiligt (s.o. und Schweiz, Focus Jemen, Juli 2016-März 2019, Stand 15.4.2019, Anhang II "Kriegsallianzen").

44 bb) Jedoch kann die Frage nach dem Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne der § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und Art. 15 Buchst. c der Qualifikations-RL 2011/95/EU letztlich offenbleiben. Denn es fehlt jedenfalls an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt. [...]

52 3. Jedoch besteht hinsichtlich des Klägers ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Bezug auf den Jemen, weshalb die Beklagte zu dessen Feststellung unter teilweiser Aufhebung des insoweit entgegenstehenden Bescheids vom 31. März 2017 zu verpflichten war (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

54 Gemessen an diesem Maßstab ist für den Jemen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK festzustellen. Zu der bereits oben unter 2. b) geschilderten höchst prekären humanitären Lage im Jemen in Bezug auf die wirtschaftliche und die Versorgungslage, insbesondere betreffend die Gewährleistung der Nahrungsmittelsicherheit sowie grundlegender Gesundheitsdienstleistungen, als Folge der allgemeinen wirtschaftlichen Schwäche sowie des seit Jahren anhaltenden bewaffneten Konflikts (s.o.), tritt noch Folgendes: So sind im Jemen etwa 8 der 30 Millionen Einwohner von einer Hungersnot bedroht, 80 Prozent der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen und Anfang 2019 waren 25 Prozent der Bevölkerung unterernährt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Jemen, Stand 16.12.2019, S. 21). Zwar sind im gesamten Land Nichtregierungsorganisationen unter anderem in der Nahrungsmittel- und Trinkwasserversorgung aktiv (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Jemen, Stand 16.12.2019, S. 35; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Yemen: Security and humanitarian situation, Stand Januar 2019, S. 22 ff.; UN OCHA, Yemen Humanitarian Update, Issue 13, 1.11.2019 bis 18.12.2019, S. 3 f.), die die Nahrungsmittelunsicherheit auch zurückgedrängt haben, gleichwohl sich immer noch 18 Distrikte (von 45) "in crisis" und 11 "in emergency" befinden (UN OCHA, Yemen Humanitarian Update, Issue 11, 26.7.2019 bis 28.8.2019, S. 2). Jedenfalls aber zeigt sich, dass die grundständige Versorgung der Bevölkerung nahezu vollständig von Nichtregierungsorganisationen abhängt. Was die Gesundheitsversorgung anbelangt ist ergänzend zu erwähnen, dass grundlegende Medikamente für große Teile der Bevölkerung unerschwinglich geworden sind (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Jemen, Stand 16.12.2019, S. 35 f.). Die Kapazitäten des desolaten Gesundheitssystems des Jemen (s.o.) werden derzeit zusätzlich durch die Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV2 strapaziert, das sich rapide im Land verbreitet (UN OCHA, Yemen COVID-19 Preparedness und Response Snapshot as of June 13th 2020). Selbst grundlegende Hygienemaßnahmen wie regelmäßiges Händewaschen können für viele Jemeniten schwer umsetzbar sein, da nahezu 18 Millionen (von etwa 30 Millionen) Einwohner keinen stetigen Zugang zu sauberem Wasser, geschweige denn Seife, haben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation, Naher Osten, COVID-19, aktuelle Lage, Stand 27. März 2020, S. 4). Von einem irgendwie gearteten sozialen Sicherungssystem ist laut der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel nicht auszugehen. Das Bruttoinlandsprodukt ist zwischen 2015 und 2017 um circa 42% eingebrochen, die Landeswährung befindet sich im freien Fall (UK Home Office, Country Policy and Information Note, Yemen: Security and humanitarian situation, Stand Januar 2019, S. 20).

55 Zur allgemein prekären Lage im Jemen addiert sich noch die eingeschränkte Leistungsfähigkeit des Klägers aufgrund seiner Erkrankungen in Folge zweier Autounfälle. Im vorgelegten Arztbrief vom 27. März 2017 und im Entlassungsbericht vom 4. April 2017 der Klinik … ist ausgeführt, dass der Kläger arbeitsunfähig entlassen werde. Eine Fortsetzung seiner Tätigkeit als Montagearbeiter sei unzumutbar, er könne aber leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten unter Vermeidung von überwiegenden Zwangshaltungen der Wirbelsäule im Umfang von täglich sechs Stunden oder mehr in allen Schichtdienstformen verrichten.

56 In einer Gesamtbetrachtung unter Einbezug der individuellen Umstände des Klägers sowie des immer noch anhaltenden bewaffneten Konflikts im Jemen sowie der dort herrschenden extrem prekären humanitären und wirtschaftlichen Lage ist davon auszugehen, dass seine Abschiebung in den Jemen einen Verstoß gegen § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründet. Aufgrund seiner eingeschränkten körperlichen Leistungsfähigkeit steht dem Kläger allenfalls ein Teilarbeitsmarkt offen, weshalb angesichts der am Boden liegenden Volkswirtschaft des Jemen die Aufnahme einer Arbeit zur eigenen Existenzsicherung als höchst unwahrscheinlich einzustufen ist. Da kein funktionierendes staatliches soziales Sicherungssystem existiert und kein familiäre Unterstützung für den Kläger im Jemen ersichtlich ist, ist in Folge der Erwerbslosigkeit mit Obdachlosigkeit und Verelendung zu rechnen. Dem Kläger droht trotz der Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln ernsthafte Armut und Bedürftigkeit, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist. [...]