VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 12.03.2021 - 11 A 54/19 - asyl.net: M29742
https://www.asyl.net/rsdb/m29742
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für alleinstehende Frau aus dem Jemen:

Alleinstehenden Frauen, die keine schutzbereiten männlichen Familienangehörige im Jemen haben, droht landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung durch staatliche und nichtstaatliche Akteure, ohne dass der jemenitische Staat oder andere Organisationen sie schützen wollten bzw. könnten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Jemen, Frauen, alleinstehende Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Gruppenverfolgung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Für die Klägerin besteht für den Fall einer Rückkehr in den Jemen die Gefahr der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbs. AsylG). [...]

In Anwendung dieser Maßgaben ist eine Gruppenverfolgung der alleinstehenden Frauen ohne männliche schutzbereite Familienangehörige im Jemen anzunehmen. Alleinstehenden Frauen, die keine schutzbereiten männlichen Familienangehörige im Jemen haben, droht landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung durch staatliche und nichtstaatliche Akteure, ohne dass der jemenitische Staat oder andere Organisationen sie schützen wollten bzw. könnten.

Der Auskunftslage zufolge ist die jemenitische Gesellschaft von Diskriminierung der Frauen geprägt. Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen vom 16. Dezember 2019 führt aus:

"Frauen sind mit tiefgreifender Diskriminierung durch das Gesetz sowie im täglichen Leben konfrontiert. Mechanismen, um Schutz zu gewährleisten, sind schwach, und die Regierung kann sie nicht effektiv umsetzen (USDOS 13.3.2019). Jemen belegt beim Gender Equality Index des UNDP und dem Global Gender Gap Index des WEF, In denen die Situation in Bezug auf Gesundheitsversorgung, Bildung, wirtschaftlicher und politischer Teilhabe und Schutz vor geschlechtsbasierter Gewalt bewertet wird, jeweils den letzten Platz. Besonders häusliche Gewalt und Kinderehen waren schon vor Ausbruch des Konflikts ein großes Problem (HRC 3.9.2019). Nur sechs Prozent der Frauen gehen Erwerbsarbeit nach (USDOS 13.3.2019).

Der anhaltende Konflikt verschärfte die ungleiche Behandlung von Frauen und Mädchen im Jemen noch weiter. Seit 2016 setzt die de facto-Regierung zunehmend patriarchale Normen und Gesetze durch. Die Gewalt gegen Frauen ist angestiegen, und das Vorgehen gegen diese Gewalt durch das Justizsystem brach 2019 weiter zusammen. 2018 waren laut Schätzungen der UN drei Millionen Frauen und Mädchen dem Risiko von Gewalt ausgesetzt. Zwangsehen, darunter auch Kinderehen, sind häufiger geworden. Einige Strafverfolgungsbehörden, Streitkräfte und bewaffnete Gruppierungen stellen eine direkte Bedrohung für die Sicherheit von Frauen dar (HRW 17.1.2019; vgl. HRC 3.9.2019; vgl. AI 26.2.2019). Frauen und Mädchen sind überproportional von der humanitären Krise und den daraus resultierenden Einschränkungen im Bereich Gesundheitsversorgung, Ernährung und sichere Unterkunft betroffen. Von den 24, 1 Millionen Jemeniten, die Hilfe benötigen, sind 18,2 Millionen Frauen und Kinder (HRC 3.9.2019).

Im Jemen ist die untergeordnete Rolle von Frauen und Mädchen in der Gesellschaft im Gesetz verankert. Frauen können nicht ohne die Erlaubnis ihres männlichen Vormunds heiraten und haben keine gleichen Rechte auf Scheidung, Erbschaft oder Sorgerecht. Der Mangel an Rechtsschutz setzt sie häuslicher und sexueller Gewalt aus. Es gibt kein Mindestalter für Eheschließungen (HRW 17.1.2019). Frauen werden in Bereichen wie Beschäftigung, Kreditvergabe, Lohn, Besitz oder dem Führen von Unternehmen, Bildung, Wohnen und vor Gericht diskriminiert (USDOS 13.3.2019). Eine Frau braucht die Erlaubnis ihres Ehemannes oder Vaters, um einen Pass zu beantragen und ins Ausland zu reisen (FH 4.2.2019). Männliche Verwandte haben lebenslang die Vormundschaft ( "wilaya") über eine Frau. Eine Frau soll ihrem Ehemann gehorchen (HRC 3.9.2019). Das Gesetz sieht Strafen für Vergewaltigung von bis zu 25 Jahren vor, doch die Regierung setzt das Gesetz nicht wirksam durch. Es gibt keine brauchbaren Statistiken zu Vergewaltigung. Innerhalb der Ehe ist die Vergewaltigung straffrei, weil das Gesetz besagt, dass eine Frau die sexuelle Beziehung zu ihrem Ehemann nicht ablehnen darf. Nach dem Gesetz können die Behörden Vergewaltigungsopfer wegen Unzucht verfolgen, wenn die Behörden keinen Täter anklagen. Ohne Geständnis des Täters muss die Überlebende einer Vergewaltigung laut Gesetz vier männliche Zeugen für das Verbrechen haben. Das Gesetz sieht die Exekution eines Mannes vor, wenn er wegen Mordes an einer Frau verurteilt wird. Das Strafgesetzbuch sieht im Falle eines "Ehrenmordes" mildernde Umstände vor. Nachsicht wird gegenüber Tätern gewaltet, wenn sie eine Frau für als "unanständig" oder "trotzig" wahrgenommenes Verhalten angreifen oder töten. Andere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt wie Schläge, Zwangsisolierung, Einsperren, Früh- und Zwangsheirat, werden im Gesetz nicht behandelt. Opfer häuslicher Gewalt wenden sich selten an Polizei und Justiz. Strafverfahren bei Fällen häuslicher Gewalt sind selten (USDOS 13.3.2019; vgl. HRC 3.9.2019).

Das Gesetz verbietet weibliche Genitalverstümmelung (female genital mutilation - FGM) nicht, es gab jedoch 2001 einen Ministerialerlass, der diese Praxis aus staatlichen Institutionen und medizinischen Einrichtungen verbannte. In einigen Gebieten ist FGM jedoch verbreitet, Zahlen aus 2015 gehen von 15-20 Prozent aus (USDOS 13.3.2019; vgl. FH 4.2.2019).

Frauen genießen keine volle Bewegungsfreiheit, wenngleich die Einschränkungen lokal unterschiedlich sind (FH 4.2.2019). In der Vergangenheit mussten Frauen die Erlaubnis eines männlichen Vormunds, wie z.B. des Ehemannes, einholen, bevor sie einen Pass beantragen oder das Land verlassen konnten. Ein Ehemann oder ein männlicher Verwandter kann eine Frau an der Ausreise hindern, indem er den Namen der Frau auf eine "Flugverbotsliste" setzt, die auf Flughäfen geführt wird. Vor dem Konflikt haben die Behörden diese Vorschrift strikt durchgesetzt, wenn Frauen mit Kindern reisten. 2018 gab es keine Meldungen darüber, dass die Behörden diese Vorschrift durchgesetzt haben. Es gab jedoch Versuche von Huthi-Rebellen, ähnliche Beschränkungen für den internationalen Reiseverkehr von Frauen durchzusetzen. Angesichts der Verschlechterung der Infrastruktur und der konfliktbedingt mangelnden Sicherheit lehnen viele Frauen Berichten zufolge eine Reise ohne Begleitung ab (USDOS 13.3.2019)."

Andere Quellen bestätigen diese Ausführungen und erläutern weiter, dass die Verfassung zwischen Bürgern und Frauen unterscheide, was indiziere, dass Frauen keine vollen Bürger seien. Zur Eheschließung sei die Zustimmung der Frau nicht erforderlich. Ein Schweigen genüge. Das jemenitische Personenstandsgesetz sehe vor, dass Frauen nur mit Zustimmung ihres Mannes das Haus verlassen dürften (The Equal Rights Trust Country Report Series: 9, June 2018, www.equalrightstrust.org/ertdocument-bank/Yemen_EN_onllne%20version.pdf). Auch vor Gericht zähle die Aussage einer Frau nur die Hälfte der eines Mannes.

Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen vom 16. Dezember 2019 führt hinsichtlich des Justizwesens und des Rechtsschutzes (Seite 14 f.) weiter aus:

"Im Jemen gibt es keine funktionierende Zentralregierung, und alle staatlichen Institutionen, die noch intakt sind, werden von nicht gewählten Beamten oder bewaffneten Gruppen kontrolliert. Das Justizwesen ist nominell unabhängig, jedoch anfällig für Beeinflussung durch politische Fraktionen. Die Behörden haben eine schlechte Bilanz, was die Durchsetzung von juristischen Urteilen angeht, besonders wenn es sich um Verurteilungen von Stammesführern oder bekannten politischen Personen handelt. Durch das Fehlen eines effektiven Gerichtswesens greift die Bevölkerung häufig auf stammesrechtliche Formen von Justiz oder Gewohnheitsrecht zurück, besonders seit der Einfluss der Regierung schwächer wird (FH 4.2.2019). Unter Kontrolle der Huthi ist die Justiz schwach und durch Korruption, politische Einmischung, gelegentliche Bestechung und mangelnde juristische Ausbildungen beeinträchtigt. Die mangelnde Kapazität der Regierung und die teilweise mangelnde Durchsetzungsbereitschaft der Gerichte, insbesondere außerhalb der Städte, haben die Glaubwürdigkeit der Justiz weiter untergraben. Kriminelle bedrohen und schikanieren Angehörige der Justiz, um den Ausgang von Verfahren zu beeinflussen (US-DOS 13.3.2019). Willkürliche Verhaftungen sind üblich. In den letzten Jahren wurden hunderte solcher Fälle dokumentiert. In vielen Fällen kommt es zu gewaltsamem Verschwindenlassen. Gefangene werden oft in inoffiziellen Haftanstalten untergebracht. Es gibt unzählige Berichte über politische Gefangene (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). [ ... ]

Das Fehlen von Geburtsregistern erschwert die Altersfeststellung, woraufhin die Gerichte Jugendliche wie Erwachsene verurteilen, auch zum Tode. Neben dem bestehenden Gerichtssystem gibt es ein Stammesrechtssystem für Fälle, die nicht unter das Strafrecht fallen [Anm. d.h. z.B. Familienrecht, etc.]. Stammesrichter, meist angesehene Scheichs, entscheiden jedoch auch oft in Kriminalfällen auf stammesrechtlicher Basis. Zu diesen Fällen kommt es gewöhnlich in Folge öffentlicher Beschuldigungen, nicht in Folge von formell eingereichten Anklagepunkten. Stammes-Mediation betont oft den sozialen Zusammenhalt mehr als Bestrafung. Die Öffentlichkeit respektiert die Ergebnisse von Stammesprozessen oft mehr als das formelle Gerichtssystem, das von vielen als korrupt und nicht unabhängig angesehen wird (USDOS 13.3.2019)."

Nach Auskunft des UNHCR (Yemenis displaced by conflict now face threats of looming famine, www.ecoi.net/de/dokument/2042248.html) erschwere sich die Situation für Frauen durch die anhaltenden Kämpfe und die Corona-Pandemie weiter. Die aktuelle allgemeine Lage stellt sich nach den Briefing Notes des Bundesamtes vom 22. März 2021 wie folgt dar:

"Die UN haben davor gewarnt, dass sich die Lage im Jemen "dramatisch verschlechtert." Die Kämpfe haben an mehreren Fronten zugenommen, vor allem im Gouvernement Marib, der letzten Hochburg der Regierung im Nordjemen, aber auch in Hajjah, Taizz und Hodeida. Es gab auch eine Zunahme von grenzüberschreitenden Angriffen. Am 21.03.21 fanden Luftangriffe der Koalition auf militärische Ziele in der Hauptstadt Sanaa statt. Gleichzeitig verschlechtert sich die humanitäre Situation. Mehr als 16 Mio. Menschen werden im Jahr 2021 voraussichtlich nicht genug zu essen haben und 50.000 Menschen leben bereits unter Bedingungen, die einer Hungernot ähneln. Die UN haben wiederholt gewarnt, dass der Jemen die größte Hungersnot der modernen Geschichte erleben werde, wenn sich die Lage nicht drastisch ändere. Die UN haben Anfang März 2021 versucht 3,85 Mrd. USD an Hilfsgeldern einzusammeln, aber nur 1,7 Mrd. erhalten. Erschwerend kommt hinzu, dass Schiffe mit Treibstoff seit Januar 2021 aufgrund eines Streits zwischen den Houthis und der Regierung nicht mehr in den Hafen von Hodeida einlaufen dürfen. Dies führt zu einer akuten Treibstoffknappheit, vor allem in Sanaa und Umgebung, sowie zu erhöhten Lebensmittelpreisen und gefährdet den Betrieb von Krankenhäusern sowie Wasserpumpen. Die Houthis kündigten an, dass der Flughafen in Sanaa, der nur für humanitäre Flüge geöffnet ist, aufgrund des Treibstoffmangels komplett geschlossen werde." [...]