OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 23.06.2021 - 2 B 203/21 - asyl.net: M29765
https://www.asyl.net/rsdb/m29765
Leitsatz:

Verteilung nach unerlaubter Einreise; Verhältnis von Vorspracheverpflichtung und Verteilungsbescheid:

"1. Ob zwingende Gründe in Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG einer Verteilung entgegenstehen, ist von der die Verteilung veranlassenden Behörde bei Erlass des Verteilungsbescheides (§ 15a Abs. 4 Satz 1 AufenthG) zu prüfen [...].

2. Für den Erlass und die Vollziehung des Verteilungsbescheides (§ 15a Abs. 4 Satz 1 AufenthG) ist unerheblich, ob zuvor eine Vorspracheverpflichtung (§ 15a Abs. 2 AufenthG) ergangen ist und ob diese vollziehbar ist [...].

(Amtliche Leitsätze; in Abkehr von OVG Bremen, Beschluss vom 25.06.2014 - 1 B 30/14 - asyl.net: M22064)

Schlagwörter: unerlaubte Einreise, Verteilungsverfahren, Änderung der Rechtsprechung, Umverteilung, Verteilungsentscheidung, Vorspracheverpflichtung,
Normen: AufenthG § 15a Abs. 1 Satz 6, AufenthG § 15a Abs. 4 Satz 1,
Auszüge:

[...]

1. Nicht zutreffend ist allerdings der Ausgangspunkt des angefochtenen Beschlusses, wonach es nicht die Aufgabe der Antragsgegnerin sei, beim Erlassen des Verteilungsbescheides das Vorliegen von der Verteilung entgegenstehenden zwingenden Gründen (§ 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG) zu prüfen.

An der bisherigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen, wonach es sich bei dem Verteilungsverfahren nach § 15a AufenthG um ein gestuftes Verfahren handelt, in dessen Rahmen "zwingende Gründe" im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen und von dieser bei einer Entscheidung nach § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG über die Vorspracheverpflichtung zu prüfen sind, nicht aber von der die Verteilung veranlassenden Behörde beim Erlass des Verteilungsbescheides (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 25.06.2014 – 1 B 30/14, juris Rn. 5; Beschl. v. 07.01.2014 – 1 B 290/13, juris Rn. 13), hält der Senat nicht länger fest. Ob zwingende Gründe einer Verteilung entgegenstehen, ist von der Behörde, die die Verteilung veranlasst, im Rahmen des Erlasses des Verteilungsbescheides (§ 15a Abs. 4 Satz 1 AufenthG) zu prüfen. Ob die Ausländerbehörde zuvor einen Vorsprachebescheid (§ 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) erlassen hat oder nicht, ist unerheblich. An der bisherigen Rechtsprechung, wonach die Verteilungsentscheidung erst vollzogen werden darf, wenn eine Vorspracheverpflichtung vollziehbar ist (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 25.06.2014 – 1 B 30/14, juris Rn. 6) wird ebenfalls nicht länger festgehalten.

a) Die Praxis hat gezeigt, dass die Verlagerung der Prüfung der "zwingenden Gründe" gegen eine Verteilung in die Phase der Entscheidung über eine Vorspracheverpflichtung die ihr in der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Gerichts zugedachte "Filterfunktion" (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 07.01.2014 – 1 B 290/13, juris Rn. 12; Beschl. v. 25.06.2014 – 1 B 30/14, juris Rn. 5) oder Abschichtungsfunktion (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 17.03.2017 – 1 B 33/17, juris Rn. 8 – 10) nicht erfüllen kann. Sowohl das öffentliche Interesse an einer gleichmäßigen Verteilung der finanziellen Belastung auf  Länder und Kommunen als auch das Interesse des betroffenen Ausländers, möglichst schnell zu erfahren, welche Ausländerbehörde für die Entscheidung über eine Duldung oder einen Aufenthaltstitel örtlich zuständig ist, gebieten eine zügige Durchführung des Verteilungsverfahrens. [...]

b) Aus der Rechtsauffassung, dass die Vollziehung der Verteilungsentscheidung die Vollziehbarkeit der Vorspracheverpflichtung voraussetzt, haben sich weitere prozessuale Folgen ergeben, die nicht mit der Konzeption eines zügigen Verteilungsverfahrens in Einklang zu bringen sind. Nicht der negative Abschluss des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes gegen den Verteilungsbescheid und wohl noch nicht einmal die Bestandskraft des Verteilungsbescheides erübrigen nach der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Gerichts die weitere Prüfung von der Verteilung entgegenstehenden zwingenden Gründen, wenn gegen die Vorspracheverpflichtung noch ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes anhängig ist. Der Betroffene, der mit einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Verteilungsbescheid erfolglos geblieben ist, kann einen späteren Erfolg im Eilverfahren gegen die Vorspracheverpflichtung zum Anlass nehmen, nach § 80 Abs. 7 VwGO die Abänderung des negativen Beschlusses im Eilverfahren gegen die Verteilungsentscheidung zu beantragen (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 10.09.2020 – 2 B 152/20, juris Rn. 3). Und selbst wenn er es versäumt hat, gegen die Verteilungsentscheidung vorzugehen und diese daher bestandskräftig ist, dürfte es sich auf Basis der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Gerichts bei einer späteren Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Vorspracheverpflichtung um eine nachträgliche Veränderung der dem Verteilungsbescheid zugrundeliegenden Sach- und Rechtslage handeln, die einen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verteilungsverfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 BremVwVfG gibt (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 15.03.2021 – 2 B 475/20, n.V.).

c) Die Annahme, das Vorliegen zwingender Gründe gegen die Verteilung sei allein von der Ausländerbehörde im Rahmen ihrer Entscheidung nach § 15a Abs. 2 AufenthG zu prüfen, ergibt sich auch nicht eindeutig aus dem Regelungszusammenhang von § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG und § 15a Abs. 2 Satz 2 AufenthG (so aber OVG Bremen, Beschl. v. 25.06.2014 – 1 B 30/14, juris Rn. 5).

aa) Dagegen spricht bereits, dass die zeitliche Grenze, bis zu der § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG den Nachweis solcher Gründe zulässt, nicht der Erlass der Vorspracheverpflichtung, sondern die Veranlassung der Verteilung ist (OVG NW, Beschl. v. 25.01.2018 – 18 B 1537/17, juris Rn. 11; Dienelt, in: Bergmann/ Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 15a AufenthG Rn. 19). [...]

bb) Daraus, dass nach § 15a Abs. 4 Satz 2 AufenthG die Ausländerbehörde den Betroffenen zur Verteilung anhört, damit er entgegenstehende Gründe geltend machen kann, und sie das "Ergebnis der Anhörung" an die Stelle übermittelt, die die Verteilung veranlasst, kann nicht geschlossen werden, dass die Ausländerbehörde über das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Hinderungsgründen gegen die Verteilung entscheidet. [...]

Zur Wahrung der Rechte des Betroffenen kann es allerdings geboten sein, dass die die Verteilung veranlassende Behörde eine ergänzende Anhörung durchführt, wenn es Anhaltspunkte für eine Veränderung der Umstände seit der Anhörung durch die Ausländerbehörde gibt oder der Ausländerbehörde bei der Anhörung Fehler unterlaufen sind (vgl. Schneider, in: Schoch/Schneider, VwVfG, § 28 Rn. 38).

d) Hinzu kommt, dass das Vorliegen von zwingenden Gründen im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG und deren konkrete Auswirkungen auf die Verteilungsentscheidung in einigen Fällen gar nicht abschließend beurteilt werden können, bevor die zentrale Verteilungsstelle der die Verteilung veranlassenden Behörde gem. § 15a Abs. 3 AufenthG den Ort benannt hat, dem der Betroffene zugewiesen werden soll. [...]

e) Ferner ist festzustellen, dass andere Gerichte der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Gerichts nicht gefolgt sind. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen ist ihr ausdrücklich entgegengetreten (vgl. Beschl. v. 25.01.2018 – 18 B 37/17, juris Rn. 7 ff.); das Bundesverwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg haben einen ohne vorherige Vorspracheverpflichtung erlassenen Verteilungsbescheid ohne nähere Begründung für rechtmäßig gehalten (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.08.2016 – 1 B 44/16, juris Rn. 6 f. und OVG Bln-Bbg, Urt. v. 08.12.2015 – 3 B 4.15, juris Rn. 31). [...]