VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 08.01.2021 - 36 K 927.17.A - asyl.net: M29767
https://www.asyl.net/rsdb/m29767
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Kurdin aus der Türkei nach Übergriffen durch Soldaten:

1. Einer kurdischen Frau, deren Vater Unterstützung der PKK vorgeworfen wird und die in diesem Zusammenhang von Soldaten bedroht und vergewaltigt wurde, droht bei ihrer Rückkehr in die Türkei politische und geschlechtsspezifische Verfolgung.

2. Es besteht für die Klägerin auch keine Möglichkeit, in einer Großstadt der Westtürkei gemäß § 3e Abs. 1 AsylG internen Schutz zu finden, da ihr aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht zugemutet werden kann, sich dort niederzulassen. Ihre Erkrankungen (PTBS, Depression) würden sich aufgrund der erneuten Konfrontation mit türkischen Sicherheitskräften wesentlich verschlechtern, und ohne familiären Unterstützung wird sie keinen Zugang zur notwendigen psychiatrischen Behandlung erlangen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, geschlechtsspezifische Verfolgung, Posttraumatische Belastungsstörung, Frauen, PKK, Familienangehörige, sexuelle Gewalt, politische Verfolgung, Vorverfolgung, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3e Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

b. Nach diesem Maßstab ist die Furcht der Klägerin vor Verfolgung durch den türkischen Staat begründet, denn ihr droht bei ihrer Rückkehr in die Türkei bei zusammenfassender Würdigung der Umstände des Einzelfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung durch den türkischen Staat.

aa. Die Klägerin wurde vor ihrer Ausreise aus der Türkei bereits im Zusammenhang mit dem Vorwurf einer angeblichen Unterstützung der Terrororganisation PKK durch ihren Vater infolge seiner Weigerung, als Dorfschützer mit dem türkischen Staat zusammenzuarbeiten sowie in Anknüpfung an das weibliche Geschlecht der Klägerin verfolgt. Dies steht zur Überzeugung des Gerichts fest aufgrund der glaubhaften Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, die mit dem Vortrag der Klägerin vor dem Bundesamt im Wesentlichen übereinstimmen. Danach war zunächst ihr Vater, der die Zusammenarbeit mit Soldaten und Dorfschützern verweigerte, im Fokus der türkischen Soldaten und ihm wurde der Vorwurf der PKK-Unterstützung gemacht. Im Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen den Vater/die Familie der Klägerin kam es schließlich zu Bedrohungen der Klägerin und sodann zur Vergewaltigung der Klägerin durch türkische Soldaten. [...]

Aufgrund der Angaben der Klägerin steht zudem zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die durch die Klägerin erlittenen Bedrohungen und Vergewaltigung als sexualisierte Gewalt an das Geschlecht der Klägerin anknüpfen und im Zusammenhang mit der ihrem Vater vorgeworfenen PKK-Unterstützung stehen. Die Angaben der Klägerin zu den Bedrohungen und der sexualisierten Gewalt aufgrund der Weigerung des Vaters, als Dorfschützer für den türkischen Staat zu arbeiten und zu dem ihm gemachten Vorwurf der PKK-Unterstützung stehen auch im Einklang mit der Erkenntnislage zur Türkei. [...]

bb. Aufgrund der zuvor ausgeführten Feststellungen geht das Gericht von einer Vorverfolgung der Klägerin aus, die zur Beweiserleichterung zugunsten der Klägerin für die Frage der begründeten Furcht vor Verfolgung führt. Stichhaltige Gründe, die gegen eine erneute Realisierung der Gefahr sprechen, sind nicht ersichtlich. Anders als die Beklagte meint, ist die Klägerin auch nicht auf internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG zu verweisen.

(1) Nach § 3e AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. [...]

(2) Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass der Klägerin die Niederlassung in einer Großstadt in der Westtürkei wegen ihres Gesundheitszustandes nicht zumutbar ist. [...] Aufgrund der eingeholten Arztauskünfte steht für das Gericht fest, dass die Erkrankung der Klägerin (PTBS, Depression) sich im Falle ihrer Niederlassung in der Westtürkei bei Anblick von türkischen Sicherheitskräften in Uniform wesentlich verschlechtert und sie ohne dort vorhandene familiäre Unterstützung keinen Zugang zu der notwendigen psychiatrischen Behandlung hat, was bei der Klägerin alsbald zu akuter Suizidgefahr führt. Zwar ist zutreffend, worauf die Beklagte hinweist, dass auch in der Türkei grundsätzlich Zugang zu psychiatrischer Versorgung und zu Frauenhäusern besteht. Indes hat die Klägerin aus krankheitsbedingten Gründen in Anbetracht sämtlicher Umstände des Einzelfalls keinen Zugang zur notwendigen psychiatrischen Behandlung. [...] Nach Auskunft von ... braucht die Klägerin eine intensive Unterstützung, um eine Therapie anlaufen zu lassen. Er führt aus, dass die Klägerin deswegen in der Türkei keine Chance habe, sich selbst zu finden, eine Therapie aufnehmen zu können und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit als einzigen Ausweg den Suizid finden würde. [...]