OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.05.2021 - 18 E 284/21 - asyl.net: M29773
https://www.asyl.net/rsdb/m29773
Leitsatz:

Voraussetzungen einer Abschiebungsandrohung gegen unbegleitete Minderjährige:

1. Auch nach dem Urteil des EuGH vom 14.01.2021 (EuGH, Urteil vom 14.01.2021 - C-441/19 (Asylmagazin 7-8/2021, S. 296 f.) - asyl.net: M29221) erfolgt die Rückführung unbegleiteter Minderjähriger in einer zweistufigen Prüfung.

2. Vor Erlass der Abschiebungsandrohung ist abstrakt zu prüfen, ob grundsätzlich eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung steht. Erst in einem weiteren Schritt erfolgt vor der konkreten Abschiebung eine Prüfung, ob die minderjährige Person tatsächlich einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben werden kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Abschiebungsandrohung, Abschiebungshindernis, Abschiebung, Rückführungsrichtlinie,
Normen: AufenthG § 58 Abs. 1a, AufenthG § 60a Abs. 2, RL 2008/115 Art. 10, RL 2008/115 Art. 6,
Auszüge:

M29773, OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.05.2021 - 18 E 284/21

Voraussetzungen einer Abschiebungsandrohung gegen unbegleitete Minderjährige:

1. Auch nach dem Urteil des EuGH vom 14.01.2021 (EuGH, Urteil vom 14.01.2021 - C-441/19 (Asylmagazin 7-8/2021, S. 296 f.) - asyl.net: M29221) erfolgt die Rückführung unbegleiteter Minderjähriger in einer zweistufigen Prüfung.

2. Vor Erlass der Abschiebungsandrohung ist abstrakt zu prüfen, ob grundsätzlich eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung steht. Erst in einem weiteren Schritt erfolgt vor der konkreten Abschiebung eine Prüfung, ob die minderjährige Person tatsächlich einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben werden kann.

(Leitsätze der Redaktion, Auseinandersetzung mit EuGH, Urteil vom 14.01.2021 - C-441/19 (Asylmagazin 7-8/2021, S. 296 f.) - asyl.net: M29221)
Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Abschiebungsandrohung, Abschiebungshindernis, Abschiebung, Rückführungsrichtlinie,
Normen: AufenthG § 58 Abs. 1a, AufenthG § 60a Abs. 2, RL 2008/115 Art. 10, RL 2008/115 Art. 6,

[...]

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass § 58 Abs. 1a AufenthG systematisch als rechtliches Vollstreckungshindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG mit dilatorischer Wirkung wirkt, solange sich die Ausländerbehörde nicht von der konkreten Möglichkeit dar Übergabe des minderjährigen Ausländers an eine in der Vorschrift genannte Person oder Einrichtung vergewissert hat. Auf die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung wirkt sich das Vollstreckungshindernis des § 58 Abs. 1a AufenthG nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 13.12 -, juris, Rn. 17).

Die Anforderungen des § 58 Abs. 1a AufenthG sind streng. Die Ausländerbehörden - und ggf. die Verwaltungsgerichte - müssen sich in jedem Einzelfall die Überzeugungsgewissheit davon verschaffen, dass die Übergabe des unbegleiteten Minderjährigen an eine in der Vorschrift genannte Person oder Einrichtung nicht nur möglich ist, sondern tatsächlich auch erfolgen wird (konkrete Möglichkeit der Übergabe). Die abstrakte Möglichkeit einer Übergabe des unbegleiteten minderjährigen Ausländers z.B. an Verwandte, die sich im Herkunftsland aufhalten und deren Aufenthaltsort nach der Ankunft erst noch ermittelt werden muss, reicht insofern nicht aus. § 58 Abs. 1a AufenthG verpflichtet die Ausländerbehörde vielmehr, sich vor Durchführung jeder Abschiebung z.B. durch Einschaltung des Bundesamts oder der Botschaften und Konsulate vor Ort positiv davon zu vergewissern, dass eine Übergabe an konkret benannte Personen bzw. Stellen tatsächlich vollzogen wird. Nur dann entfällt das gesetzliche Vollstreckungshindernis für eine Abschiebung. Die konkrete Möglichkeit einer Übergabe an zu bezeichnende Personen oder Stellen durch § 58 Abs. 1a AufenthG ist daher eine eigenständige Vollzugsvoraussetzung der Abschiebung, die zur Überzeugungsgewissheit der Behörden bzw. Gerichte feststehen muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 13.12 -, juris, Rn. 18, 209).

Gemessen daran ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung unerheblich, ob sichergestellt ist, dass der Kläger in seinem Heimatland in Obhut gegeben werden kann.

Auch aus dem Urteil des EuGH vom 14. Januar 2021 - C-441/19 -, juris, kann der Kläger nichts Tragfähiges herleiten. Danach ergibt sich aus Art. 5 Buchst. a und Art. 10 RL 2008/115 i.V.m. Art. 24 Abs. 2 GRCh, dass vor Erlass einer Rückkehrentscheidung (= Abschiebungsandrohung) eine Untersuchung durchgeführt werden muss, um konkret zu prüfen, ob für den fraglichen unbegleiteten Minderjährigen im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung steht. Steht keine solche Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung, kann gegen den Minderjährigen keine Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115 ergehen (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Januar 2021 - C-441/19 -, juris, Rn. 55 f.).

Steht eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung, muss der fragliche unbegleitete Minderjährige vorbehaltlich der Entwicklung seiner Situation aus dem Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats abgeschoben werden. Aus Art. 10 Abs. 2 RL 2008/115 ergibt sich nämlich, dass vor Abschiebung von unbegleiteten Minderjährigen aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats die Behörden dieses Mitgliedstaats sich vergewissern, dass die Minderjährigen einem Mitglied ihrer Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben werden. Infolgedessen befreit die sich aus Art. 6 Abs. 1 R L 2008/115 in Verbindung. mit ihrem Art. 5 Buchst. a und mit Art. 24 Abs. 2 GRCh ergebende Pflicht des betreffenden Mitgliedstaats, sich vor Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem unbegleiteten Minderjährigen zu vergewissern, dass es eine geeignete Aufnahmemöglichkeit gibt, den Mitgliedstaat nicht von der Pflicht, sich gemäß Art. 10 Abs. 2 RL 2008/115 vor der Abschiebung des Minderjährigen zu vergewissern, dass er einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben wird. In diesem Zusammenhang muss der betreffende Mitgliedstaat jede Entwicklung der Situation berücksichtigen, die nach Erlass der Rückkehrentscheidung eintritt (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Januar 2021 – C-441/19 -, juris, Rn. 75- 77).

Mithin geht der EuGH ersichtlich von einer zweistufigen Prüfung aus: In einem ersten Schritt haben die Behörden - und Gerichte - zu prüfen, ob grundsätzlich eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung steht. Ist dies nicht der Fall, darf bereits keine Abschiebungsandrohung erlassen werden, eine dennoch erlassene Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig. Steht dagegen eine derartige Möglichkeit zur Verfügung, muss vor der Abschiebung in einem zweiten Schritt konkret geprüft werden, ob der Minderjährige einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben werden kann. Dabei muss die Überzeugungsgewissheit vorliegen, dass die Übergabe auch tatsächlich erfolgen wird.

Gemessen daran ist die Abschiebungsandrohung hier nicht zu beanstanden. Aufgrund der eigenen Angaben des Klägers zu seinen familiären Verhältnissen und der letzten Kontaktaufnahme zu seiner Mutter steht grundsätzlich eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung. Darüber hinausgehende Prüfpflichten bestanden für den Beklagten vor Erlass der Abschiebungsandrohung nicht . [...]